Autotür ins Abseits

Dooring-Unfälle: Zusammenstöße mit Autotüren sind für Radfahrende oft folgenschwer. Michael Meier leidet bis heute.

17. Mai 2023
7 Minuten

Regelmäßig stoßen in Deutschland Radfahrende mit Autotüren zusammen, die Pkw-Insassen plötzlich vor ihnen öffnen. Allein im Jahr 2018 waren es über 3.000 Unfälle. Bei diesen sogenannten Dooring-Unfällen erleiden sie häufig schwere Kopf- oder Beinverletzungen. Michael Meier ist einer der Betroffenen. Mehr als zwei Jahre verbrachte er in Kliniken, um sich von einem Schädel-Hirn-Trauma zu erholen. Der Dooring-Unfall hat sein Leben verändert – und das seiner Familie.

Schlucken, sprechen, laufen. Das und vieles mehr musste Michael Meier nach dem Unfall neu lernen. Und dann war da noch das große Loch in seinem Gedächtnis. In seiner Vorstellung wohnte er in einem anderen Haus, in einer anderen Stadt und arbeitete für eine andere Firma. Er war ein Wirtschaftsingenieur, der alle paar Jahre den Job wechselte und sich dabei nicht verschlechterte. Dass er sich nun allerdings schon im Jahr 2017 befinden sollte, das glaubte er weder seiner Frau Susanne Schleußer noch der Atomuhr in Braunschweig.

In Meiers Zeitrechnung war es rund zehn Jahre früher. Sein Sohn Henric war ein kleiner Junge, den er im Fußballverein in Lippstadt trainierte, und nicht der hochgewachsene Teenager, der bei ihm am Krankenhausbett in Köln stand. Grund für die unterschiedlichen Realitäten ist eine Autotür, die plötzlich vor ihm geöffnet wurde. Das sorgte dafür, dass sein Leben innerhalb weniger Sekunden ein anderes geworden ist. Und nicht nur seins, auch das Leben seiner Frau und das seines Sohnes. Es macht etwas mit einem Sohn, wenn der eigene Vater ihn nicht erkennt. Gerade wenn er dabei ist, sich vom Jungen zum Jugendlichen zu entwickeln.

Der Tag, an dem sich ihr Leben in ein Vorher und ein Nachher spaltete, war der 19. Mai 2015, der Familienhund Pelé hatte Geburtstag. Michael Meier, damals 48 Jahre alt, holte sein Rad aus der Garage, um zur Arbeit zu fahren. Elf Kilometer lagen vor ihm, erst durch das Wohngebiet, dann durch den Wald. Doch bis dort kam er an diesem Tag nicht. Nach wenigen hundert Metern Fahrt wurde eine Fahrertür vor ihm geöffnet, als er gerade auf Höhe des Kofferraums war.

„Bei 20 km/h hat man auf dem Fahrrad einen Bremsweg von rund elf Metern“, sagt Meier knapp sieben Jahre nach dem Unfall. Er sitzt am Esstisch des Einfamilienhauses in Krefeld, in dem er mit seiner Frau und seinem mittlerweile 20 Jahre alten Sohn lebt. „Ich wurde über die Tür geschleudert und bin aus zwei Metern Höhe mit dem Kopf auf den Asphalt geknallt“, erzählt er. Seine Frau hat Kaffee und zwei Tassen hingestellt und sich in ihr Arbeitszimmer unter dem Dach zurückgezogen. Sie ist selbstständige Lektorin und steht vor einer Abgabe. Auf seiner Tasse steht: „Schön, dass es dich gibt!“

Kaffee trinken konnte er erst zwei Jahre nach dem Unfall wieder. 23 Monate lang wurde er über eine Magensonde ernährt, zweieinhalb Wochen lag er im künstlichen Koma. Er kam mit einem schweren Schädelbruch auf die Intensivstation, wo man ihm vorübergehend ein Stück Schädelplatte herausnahm, damit sich Hirnwasserdruck und -temperatur reduzieren konnten.

Steife Finger vom Liegen

Von dem Schädel-Hirn-Trauma dritten Grades sieht man heute noch eine Delle und eine Beule am Haaransatz. Im Kopf regelt ein Shuntsystem den Hirnwasserdruck, damit er sich nicht aufstaut. Auffälliger ist sein steifer Gang und dass er seine Finger nicht richtig strecken kann. „Das kommt vom Liegen.“ Mehr als zwei Jahre hat er in Kliniken verbracht, wo seine Frau ihn fast täglich besuchte. Rund 70 Kilometer waren es nach Köln, pro Strecke. 

Wer so zurückgeworfen wird im Leben, kann sich leicht in einem Netz aus Konjunktiven verfangen. Etwa: Hätte er den Hund noch eine halbe Minute länger gekrault, wäre der Unfall vielleicht nicht passiert. Doch solche Gedanken seien ihm nie gekommen. „Wie sagen die Engländer so schön: Shit happens.“ Er sei zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen.

Mehrere tausend Dooring-Unfälle

Der Allgemeine Deutsche Fahrradclub (ADFC) schätzt, dass jedes Jahr mehrere tausend Radfahrende mit Autotüren zusammenstoßen, die plötzlich vor ihnen geöffnet werden. Sogenannte Dooring-Unfälle machen rund 52 Prozent der Radverkehrsunfälle im Zusammenhang mit dem Parken im innerstädtischen Bereich aus, sagt eine Studie der Unfallforschung der Versicherer. Dabei können Radfahrende eine schwere Verletzung erleiden, meist am Kopf – wie bei Michael Meier – oder an den Beinen. 

Laut dem ADFC sterben durchschnittlich drei Menschen pro Jahr in Deutschland auf diese Weise. Auch wenn es sich nicht um die häufigste Unfallart für Radfahrende handelt, so sind Dooring-Unfälle eine Gefahr, der sie kaum vorbeugen können. Vorausschauendes Fahren stößt hier an seine Grenzen. Die Vermeidung dieser Unfälle liegt auf Seite der Autofahrer und anderer Pkw-Insassen, die aus einem parkenden Fahrzeug aussteigen. Vor dem Öffnen einer Autotür sollten sie die Rück- und Seitenspiegel beobachten und den Holländischen Griff anwenden. Bei diesem Griff öffnet man die Tür mit der rechten statt mit der linken Hand. Dabei dreht sich automatisch der Oberkörper und erleichtert so den Schulterblick. Die Tür sollte erst vollständig geöffnet werden, wenn keine Rad Fahrenden, aber auch keine anderen Verkehrsteilnehmenden wie zu Fuß Gehende oder E-Scooter Fahrende zu sehen sind.  

Für Michael Meier, der in seinem Leben vier Marathons mit Inline-Skates gelaufen ist, bedeutete dieser Unfall, mit vielem ganz von vorn zu beginnen. Nach einem Dreivierteljahr im Krankenhaus bewegte er zum ersten Mal einen Zeh. Es folgten viele kleine Fortschritte, aber auch einige größere Rückschritte, bis er sich daran machen konnte, sein Lebenspuzzle wieder zusammenzufügen.  

Foto um Foto, Dokument um Dokument, Erzählung um Erzählung setzte er für fehlende Teile seiner Erinnerung ein. Fragt man ihn heute, wann er wo gearbeitet hat oder wann die Familie wo gelebt oder Urlaub gemacht hat, kann er darauf ausführlich antworten. Und wenn nicht, schaut er in seinen Aufzeichnungen nach. Er hat viele Stunden investiert, um alles einmal aufzuschreiben. 

Auch körperlich hat Meier unermüdlich daran gearbeitet, an seine frühere Form anzuknüpfen. Mit Hilfe von Ergotherapie, Krankengymnastik und Fitnessstudio hat er es geschafft, den Rollstuhl erst gegen einen Rollator und dann gegen einen Gehstock einzutauschen. Mittlerweile braucht er auch ihn nicht mehr.

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Drei Kilometer gehen, an guten Tagen

An guten Tagen kann er drei Kilometer gehen, auch Fahrrad fährt er wieder. Stolz führt er sein Dreirad vor, mit dem er zum Markt fährt. Noch stolzer ist er auf sein Fahrrad, an das er Stützräder montiert hat. „Ich bin aufgestiegen, von drei auf vier Räder“, sagt er und grinst. Dafür muss allerdings sein Gleichgewichtssinn mitspielen, der noch gestört ist.  

Gearbeitet hat er seit dem Unfall nicht mehr. Weil es ein Unfall auf dem Weg zur Arbeit war, zahlt ihm die Berufsgenossenschaft zwei Drittel seines letzten Gehalts. Seine Frau arbeitet allmählich wieder so viel wie vor dem Unfall. In den ersten Jahren hatte sie ihre Arbeit stark reduziert, die Fahrten ins Krankenhaus und was sonst noch alles geregelt werden musste, kosteten viel Zeit. Meier hofft, dass er eines Tages auch wieder arbeiten kann. Zumindest zwei bis drei Stunden am Tag. Mittwochs sitzt er dafür schon am Schreibtisch und bereitet sich auf den Wiedereinstieg vor. 

Es ist ein langer Weg der kleinen Schritte. Umso erstaunlicher ist es, dass er den Humor nicht verloren hat. Im Gegenteil: Er scheint sein Mittel zu sein, die Dinge leichter zu nehmen, als man sie sich vorstellt. Selbst wenn er über die Unfallverursacherin spricht, hört man keine Bitterkeit in seiner Stimme. „Sie ist Angestellte eines Pflegedienstes, aber die wollten dadurch keine Kunden gewinnen“, sagt er und lacht. „Ich bin der Person nicht böse.“ Er sei einer, der nach vorne schaut und überlegt, was man besser machen kann.

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Sein Umfeld schenkt ihm Kraft

Das tat auch ein Freund und brachte seine Firma dazu, jedes Dienstauto mit Aufklebern zu versehen, um den „Holländischen Griff“ zu etablieren. „Sei kein Fahrradfresser, greif rechts, schau links“, steht darauf. Sie erinnern daran, aufmerksam zu sein und andere nicht zu gefährden, wenn man aus dem Auto aussteigt. 

Doch was können Radler tun, die nicht darauf vertrauen möchten, dass Autofahrende beim Aussteigen an sie denken? Roland Huhn, ADFC-Referent für Recht, sagt: „Eigentlich müssten Radfahrer mindestens einen Meter Abstand von parkenden Autos halten, vom Lenker gerechnet." Doch so weit auf der Straße zu fahren sei nicht jedermanns Sache, da man häufig von Autos bedrängt werde, die auf das Rechtsfahrgebot pochen. 

Eine technische Hilfe sieht er in Assistenzsystemen, die die Autotür blockieren, wenn sich von hinten etwas nähert. Genauso wie Spurwechsel-, Abbiege- oder Einparkassistenten funktionieren sie über Sensoren. Allerdings sind Ausstiegsassistenzen noch nicht weit verbreitet. Radfahrende sollten sich also nicht darauf verlassen, dass das Auto notfalls selbst einschreitet. 

Nicht jeder, der einen so schweren Unfall hatte, wie Michael Meier, steht danach so im Leben wie er. Nicht jeder schaut so nach vorn. Nicht jeder hat so eine Frau wie Susanne Schleußer, die Job und Leben wie selbstverständlich zurückgestellt hat, um von morgens bis abends da zu sein. 

„Ich habe gespürt, da ist wirklich Liebe da“, sagt Meier, seine Augen glänzen. „Es stand nie zur Diskussion, ob es auseinandergeht.“ Er empfinde eine große Dankbarkeit für alles, was sie für ihn getan habe. Und nicht nur sie, auch Familie, Freunde und Nachbarn hätten das. In den knapp zwei Jahren, die er in Krankenhäusern verbrachte, hatte er fast jeden Tag Besuch. Auch in der Zeit, in der er noch gar nicht richtig bei Bewusstsein war. Dann macht er eine Pause, in der man Pelé schnarchen und das Feuer im Kamin knacken hört. 

Verlorene Jahre aufholen

Die Sache, mit der Meier am meisten zu kämpfen hat, ist die Beziehung zu seinem Sohn. „Mir fiel es extrem schwer, in sein Leben reinzukommen, weil ich zeitlich hinterher war“, sagt er. Seine Stimme klingt nun gepresst. „Als ich nach Hause kam, habe ich mich erstmal mit mir selbst beschäftigt, überhaupt nicht mit ihm und was der Unfall bei ihm ausgelöst hat.“ Gerade im jugendlichen Alter müsse man ja auch noch das eigene Leben finden. „Da keine Unterstützung zu sein, tut schon weh.“ Die verlorenen Jahre mit ihm würde er gerne aufholen. 

Und wie lebt die Unfallverursacherin damit? Michael Meier zögert. Er würde sie ungerne mit dieser Frage belasten. „Wäre mir das passiert, würde mir das immer nachhängen“, sagt er. „Ich kann mir vorstellen, dass es einer Frau, die einen Pflegeberuf macht, erst recht so geht.“ Er hat Tränen in den Augen. Er könnte ihre Nummer raussuchen, schlägt aber vor, erst beim Pflegedienst vorzufühlen. 

Als er hochgeht, um dessen Namen rauszusuchen, wird seine Frau hellhörig und kommt mit ihm die Treppe herunter. Sie erzählt, dass sich die Pflegerin im Zuge des Täter-Opfer-Ausgleichs, der in so einem Fall gemacht wird, aufrichtig bei ihr entschuldigt hat. „Ich habe ihr angemerkt, dass ihr die Sache sehr nahe geht“, sagt sie. Die Frau habe dann noch mehrmals angerufen, aber Susanne Schleußer bat darum, sich nicht mehr zu melden. „Ich musste erstmal selbst mit der Situation klarkommen und konnte mich nicht auch noch mit ihrer Situation belasten.“ 

Die Vorstellung, von ihr in diesem Artikel zu lesen, wühle sie auf. „Es ist nicht alles gut, Mika“, sagt sie zu ihrem Mann. Der nickt und nimmt sie in den Arm. Es liegen noch viele kleine Schritte vor der Familie. 

Bilder: Jan Ladwig