Ein Stoppschild dürfte den meisten Verkehrsteilnehmenden bekannt sein. Aber was genau gilt beim Abbiegen, beim Einfädeln oder im Kreisverkehr? Wann muss das „Gebot der wechselseitigen Rücksichtnahme“ beachtet werden, das der Bundesgerichtshof jüngst angemahnt hat? Ein Experte erklärt die wichtigsten Verhaltensregeln.
Wer darf zuerst?
Ein Lkw und ein Pkw fahren nebeneinanderher. Dann taucht ein Verkehrszeichen auf: beidseitige Fahrbahnverengung! Für beide Fahrzeuge nebeneinander reicht die Fahrbahnbreite nicht aus. Der links fahrende Lkw zieht nach rechts, es kommt zum Unfall. Wer trägt die Schuld? Beide! Das hat der Bundesgerichtshof (BGH) in einer Entscheidung im März 2022 festgestellt. In dieser Situation gilt nicht etwa „rechts vor links“, sondern §1 der Straßenverkehrsordnung (StVO): „Die Teilnahme am Straßenverkehr erfordert ständige Vorsicht und gegenseitige Rücksicht.“
„Viele Regeln für Vorfahrt und Vorrang sind leider nicht so bekannt wie das Stoppschild“, sagt Kay Schulte, Referatsleiter Unfallprävention – Wege und Dienstwege beim Deutschen Verkehrssicherheitsrat (DVR). „Das führt zu Unsicherheit in bestimmten Verkehrssituationen und letztlich zu Unfällen.“ Im Jahr 2021 war das Missachten von Vorfahrts- und Vorrangregeln Ursache für fast 42.000 Unfälle mit Personenschaden in Deutschland. Grund genug, sich die geltenden Regeln immer mal wieder bewusst zu machen.
An der Kreuzung
Ampeln, Stopp- und „Vorfahrt gewähren“-Schilder geben den Verkehrsteilnehmenden klare Orientierung. Kreuzen sich zwei Straßen ohne Verkehrszeichen und Ampeln, gilt in Deutschland die bekannte Grundregel „rechts vor links“: Von rechts kommende Fahrzeuge haben Vorfahrt. Aber diese Regel hilft nicht immer weiter. Wenn mehrere Fahrzeuge gleichzeitig an die Kreuzung kommen, kann es passieren, dass jedes Fahrzeug ein anderes vorlassen müsste und es zum Stillstand kommt. „Weiter geht es nur, wenn eine Fahrerin oder ein Fahrer auf die Vorfahrt verzichtet“, sagt Schulte. „Diese Person gibt der Person links von ihr das Zeichen, dass sie zuerst fahren soll, und löst so das Problem.“
Das ist nicht nur gesunder Menschenverstand, sondern so auch klar von der Straßenverkehrsordnung (StVO) geregelt. Wer nach den Verkehrsregeln eigentlich weiterfahren darf oder Vorrang hat, heißt es in §11, „muss darauf verzichten, wenn die Verkehrslage es erfordert; auf einen Verzicht darf man nur vertrauen, wenn man sich mit dem oder der Verzichtenden verständigt hat.“ Die Person, die zuerst nachgibt, hat zwar den Nachteil, dass sie erst später fahren kann, andererseits kann sie mit dem befriedigenden Gefühl weiterfahren, den Stillstand beendet zu haben.
Beim Abbiegen
Wer links abbiegt, muss den Gegenverkehr durchlassen. Diese Regel ist weitgehend bekannt. „Weniger bekannt ist, dass auch beim Rechtsabbiegen der Mitverkehr und der Gegenverkehr Vorrang hat, also in der Regel Menschen, die zu Fuß gehen oder mit dem Fahrrad unterwegs sind“, warnt Schulte. Die StVO betont: „Auf zu Fuß Gehende ist besondere Rücksicht zu nehmen; wenn nötig, ist zu warten.“ Für Fahrzeuge mit mehr als 3,5 Tonnen zulässige Gesamtmasse gilt innerorts darüber hinaus, dass beim Rechtsabbiegen nur mit Schrittgeschwindigkeit gefahren werden darf, wenn mit Fahrrad- oder Fußverkehr zu rechnen ist.
Beim Reißverschluss
Eine weitere Situation, die die StVO eigentlich klar regelt, führt immer wieder zu Verdruss: Bei einseitiger Fahrbahnverengung gilt das Reißverschlussverfahren. Ist auf einer mehrspurigen Straße ein Fahrstreifen blockiert – zum Beispiel aufgrund einer Baustelle – dann muss den Fahrzeugen, die zum Wechseln gezwungen sind, der Spurwechsel auf den benachbarten Fahrstreifen nach dem Reißverschlussverfahren gewährt werden. Das heißt, auf ein Fahrzeug des durchgehenden Fahrstreifens folgt ein Fahrzeug des blockierten Streifens und so weiter. „Am besten funktioniert der Reißverschluss, wenn die zum Wechsel gezwungenen Fahrzeuge den Fahrstreifen erst unmittelbar vor Beginn der Verengung wechseln“, sagt Schulte.
Auf der Autobahn und im Kreisverkehr
„Bei der Frage, wer Vorrang hat, gilt die Grundregel, dass es nicht zählt, wohin ich möchte, sondern wo ich herkomme“, erklärt der DVR-Experte. Das gelte zum Beispiel beim Beschleunigungsstreifen der Autobahn: Der durchgehende Verkehr, der bereits auf der Autobahn unterwegs ist, hat Vorfahrt. Das müssen auffahrende Fahrzeuge beachten. Generell ist das Auffahren auf und das Abfahren von der Autobahn unfallträchtig, weil schnelle und langsame Fahrzeuge aufeinandertreffen. Daher gilt hier das allgemeine Gebot ständiger Vorsicht und gegenseitiger Rücksicht in besonderem Maße.
Ein Kreisverkehr kann durch die Kombination der Verkehrszeichen „Vorfahrt gewähren“ und „Kreisverkehr“ angezeigt werden. Dann gilt: Die bereits im Kreis fahrenden Fahrzeuge haben Vorfahrt. „Das bedeutet aber auch: Fehlen diese Verkehrszeichen, gilt auch im Kreisverkehr rechts vor links“, betont Schulte. Das wüssten viele Verkehrsteilnehmende nicht. Blinken ist im Kreisverkehr überdies nur beim Ausfahren angezeigt.
Im Ausland
Die bekanntesten Verkehrszeichen haben weltweit die gleiche Bedeutung. Doch der Kreisverkehr ist ein gutes Beispiel dafür, dass bei unseren Nachbarn in einigen Situationen andere Verkehrsregeln gelten als bei uns. So haben in Polen, Portugal, Spanien und der Schweiz die Fahrzeuge im Kreisverkehr grundsätzlich Vorfahrt. „Auch ich kenne nicht alle Regeln in jedem Land Europas“, sagt DVR-Experte Schulte. Wer im Ausland mit dem Auto unterwegs ist, solle sich vor Reiseantritt mit den wichtigsten Ausnahmen vertraut machen. „Aber auch da ist man auf der sicheren Seite, wenn man das Prinzip der gegenseitigen Rücksichtnahme beachtet.“
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