Gu(r)t gesichert

Heute ist das Anlegen des Sicherheitsgurtes für die meisten Autofahrenden Routine. Doch der Weg dahin war nicht einfach.

30. August 2022
4 Minuten

Der Sicherheitsgurt ist einer der wichtigsten Lebensretter im Auto. Doch so einig wie heute war man sich nicht immer. Die Einführung der Gurtpflicht war begleitet von hitzig geführten Debatten, viele Autofahrerinnen und Autofahrer widersetzten sich ihr zunächst. Erst im Laufe der Zeit schwanden die Zweifel zugunsten der Akzeptanz für die wichtigste Sicherheitsmaßnahme im Pkw.

Heute ist Anlegen des Sicherheitsgurtes für die meisten Autofahrerinnen und Autofahrer reine Formsache. Doch noch bis in die 1950er Jahre fuhr kaum jemand angeschnallt Auto, nur wenige Fahrzeuge waren mit Gurten ausgestattet. Das spiegelte sich in den Statistiken wider. Von 1953 bis 1984 starben hierzulande jedes Jahr deutlich mehr als 10.000 Menschen, 1970 sogar knapp 20.000 bei Verkehrsunfällen. Nach Einführung der Gurtpflicht im Jahre 1976 setzte man noch auf Freiwilligkeit. Erst 1984 wurde ein Bußgeld für die Missachtung der Anschnallpflicht eingeführt. Zwar wurden die ersten Anschnallgurte in Fahrzeugen schon Anfang des 20. Jahrhunderts in den USA und in Frankreich verwendet. Jedoch hatten sie entscheidende Nachteile. Entweder waren sie umständlich und das Anlegen kompliziert. Oder sie waren zu einfach und boten Fahrzeuginsassen bei einem Aufprall keinen ausreichenden Schutz. Durchgesetzt haben diese Systeme sich alle nicht. 1959 ließ sich der schwedische Ingenieur Nils Ivar Bohlin eine sichere und komfortable Erfindung patentieren: Den Dreipunkt-Sicherheitsgurt. Bis auf wenige Ausnahmen gehört dieser Gurt heute zur Standardausstattung im Pkw. Doch so einfach war es anfangs nicht.

Der Dreipunkt-Sicherheitsgurt

Das Band des Dreipunktgurts ist – wie der Name verrät – an drei Punkten fest mit der Fahrzeugkarosserie verbunden. Der erste befindet sich meist im unteren Bereich der B-Säule. Sie ist die Verbindung zwischen Fahrzeugboden und -dach an der seitlichen Fahrzeugmitte, welche die Fahrgastzelle bei einem Überschlag oder Seitenaufprall vor Verformung schützt. Zweiter Punkt ist das meist am Sitz befindliche Gurtschloss, welches mit einer Schlosszunge geschlossen und auf Knopfdruck wieder geöffnet wird. Im oberen Bereich der B-Säule befinden sich in der Regel der dritte, höhenverstellbare Punkt. So fixiert der Gurt gleichzeitig Schulter und Becken, bei einem Unfall hält er die angeschnallte Person sicher im Sitz.

1972: Gurt, ja – Anschnallen, nein!

Nach und nach verbauten im Laufe der 1960er Jahre immer mehr Autohersteller Dreipunkt-Sicherheitsgurte in ihren Fahrzeugen. Doch deren Verbreitung in Deutschland kam anfangs nur schleppend voran. Dabei gab es genügend Gründe, die dafürsprachen, vor allem die eindeutigen Unfallzahlen: 1970 hatten 19.193 Menschen ihr Leben bei Verkehrsunfällen verloren, bis heute ein Höchststand. Zum Vergleich: 2021 gab es hierzulande 2.562 Verkehrstote, das ist ein Rückgang von mehr als 86 Prozent.Die Situation war grotesk. Zwar hielten in Umfragen 90 Prozent der Befragten den Anschnallgurt für ein notwendiges und sinnvolles Rückhaltesystem. Zwei Drittel waren für den Einbau von Sicherheitsgurten in Pkw. Doch sich selbst anschnallen wollte kaum jemand.

1974: Der Sicherheitsgurt macht Autofahrenden Angst

Um herauszufinden, was in den Köpfen der Autofahrenden vorging, gab das Bundesverkehrsministerium 1974 eine psychologische Studie in Auftrag. Die Forscherinnen und Forscher kamen zu einem überraschenden Ergebnis. Die meisten Teilnehmenden assoziierten mit dem Sicherheitsgurt in erster Linie die Gefahren und Folgen eines Unfalls. Viele fürchteten etwa, bei angelegtem Gurt im Fahrzeug zu verbrennen oder an den Sitz gefesselt zu sein. Die Funktion und Schutzwirkung des Gurtes kam für die Mehrheit der Befragten an zweiter Stelle. Entsprechend gering war die Gurttragequote: 1972 benutzten nur 15 Prozent der Autofahrerinnen und Autofahrer auf Autobahnen den Sicherheitsgurt, innerorts betrug diese Quote sogar nur fünf Prozent.

Die Politik reagierte auf die hohen Unfallzahlen und die vielen Verkehrstoten nur zögerlich. Man wollte vermeiden, was man heute als „Shitstorm“ bezeichnet – wütende Reaktionen der Bürgerinnen und Bürger. Das Auto galt damals als Symbol der Freiheit, der Sicherheitsgurt stand hingegen für Einschränkung und Bevormundung. Dies spiegelte sich in der Gesetzgebung wider. Am 1. Januar 1974 trat zwar ein neues Gesetz in Kraft, wonach die Vordersitze neu zugelassener Pkw mit Sicherheitsgurten ausgestattet sein mussten. Allerdings: Eine Pflicht, diese auch anzulegen, bestand nicht. Vor diesem Hintergrund blieb die Gurttragequote zunächst relativ niedrig. Auch Informations- und Aufklärungskampagnen, welche auf die Risiken und Gefahren des Fahrens ohne Gurt aufmerksam machen sollten, zeigten keine nennenswerte Wirkung.

1976: Die Anschnallpflicht wird zur Glaubensfrage

Stattdessen bildeten sich zwei Lager mit völlig verschiedenen Ansichten. Auf der einen Seite die Mehrheit der „Gurtmuffel“, welche um ihre Freiheit als Autofahrerende fürchtete, auf der anderen die als spießig-besserwisserisch verschriene Minderheit der Gurtträgerinnen und Gurtträger.

Um nicht als Missionarinnen und Missionare abgestempelt zu werden, verzichteten damals angeblich sogar einige Befürwortende des Anschnallens auf das Anlegen eines Gurtes. Wieder reagierte die Politik zögerlich angesichts der emotional geführten gesellschaftlichen Debatte: Zum 1. Januar 1976 trat die Anschnallpflicht auf den Vordersitzen in Kraft, ab 1979 auch hinten – bei Verstoß drohte jedoch keine Sanktion. Die Wirkung war wenig überraschend: Die Gurttragequote stagnierte weiterhin und stieg in den folgenden Jahren nur langsam.

1984 bis heute: Der Weg zur Einsicht führte über den Geldbeutel

Das änderte sich schlagartig erst 1984. Noch im März dieses Jahres waren weniger als zwei Drittel (62 Prozent) der Pkw-Fahrenden auf Landstraßen angeschnallt unterwegs. Innerorts trug sogar weniger als die Hälfte von ihnen (47 Prozent) den Sicherheitsgurt. Bis September stieg diese Quote sprunghaft auf 94 Prozent auf Landstraßen beziehungsweise 88 Prozent innerorts an. Der Grund: Gurtmuffeln drohte jetzt ein Verwarngeld von 40 D-Mark. Das war selbst eingefleischten Gurtgegnerinnen und -gegnern dauerhaft zu viel. Zudem setzte sich nach und nach durch, was Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler schon lange wussten: Der Sicherheitsgurt ist keine Gefahr für Autofahrende, sondern ein Lebensretter.

Gurteinbau- und Gurttragepflicht: Wichtige Daten im Überblick

  • Januar 1974: Einführung der Einbaupflicht von Dreipunkt-Sicherheitsgurten auf Pkw-Vordersitzen
  • Januar 1976: Einführung der Gurtpflicht für Erwachsene auf Pkw-Vordersitzen
  • 1979 Anschnallpflicht für alle Personen im Auto
  • August 1984: Einführung der Gurtpflicht für Erwachsene auf Pkw-Rücksitzen, Bußgeld bei Missachtung der Gurtpflicht auf Pkw-Vordersitzen
  • Januar 1992: Einführung der Gurtpflicht in Lkw über 3,5 Tonnen
  • April 1993: Einführung der Pflicht zur Sicherung von Kindern in Kraftfahrzeugen
  • 1. Juli 2004: Einführung der Pflicht zum Einbau von Dreipunktgurten auf allen Pkw-Sitzen

Heute liegt die Gurttragequote bei erwachsenen Pkw-Insassen bei über 99 Prozent, laut Zahlen der Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt). Die Schutzwirkung des Sicherheitsgurtes ist unbestritten. Bereits in den 1980er Jahren wiesen Unfallforschende nach, dass er das Risiko schwerer Verletzungen von Fahrenden und Beifahrenden um 50 bis 70 Prozent reduziert, Kopfverletzungen um 75 Prozent. Zudem senkt ein angelegter Sicherheitsgurt die Gefahr tödlicher Verletzungen um mindestens 50 Prozent. Wer im Auto nicht angeschnallt ist, riskiert nicht nur ein Bußgeld von 30 Euro, sondern geht auch ein hohes Risiko ein. Gemäß Schätzungen der BASt und der Unfallforschung der Versicherer (UDV) ist etwa jede beziehungsweise jeder vierte bei einem Verkehrsunfall tödlich verunglückte Autofahrende oder -mitfahrende zum Unfallzeitpunkt nicht oder nicht korrekt angeschnallt.

Bilder: DVR, Shutterstock