30. März 2022

„Geh es entspannt an und bleib wachsam.“

Ein Mann, ein Motorrad und eine Kamera. Eindrücke von einer Reise ans Nordkap.

5 Minuten

2018 brauchte der Fotograf Mike Dodd eine Auszeit. In seiner Heimatstadt London setzte er sich auf sein Oldtimer-Motorrad und fuhr los in Richtung Norden. Im Interview spricht er über seine außergewöhnliche Reise, Fehler bei der Vorbereitung und überraschende Herausforderungen.

Mike, Sie sind spontan mit Ihrem über 40 Jahre alten Motorrad Richtung Nordkap aufgebrochen. Welche Route haben Sie gewählt?

Mike Dodd: Mein Weg führte mich durch Frankreich, Belgien, die Niederlande, Deutschland und Dänemark. Von dort ging es mit der Fähre nach Kristiansand, Norwegen. Dann bin ich entlang der norwegischen Westküste nordwärts gefahren.

Ungefähr 8.500 Kilometer durch sechs Länder – alleine auf dem Motorrad. War es das erste Mal, dass Sie zu einer solch großen Reise aufgebrochen sind?

In dieser Größenordnung, ja. Im Jahr zuvor bin ich nach Italien gefahren, um die höchsten Alpenpässe zu überqueren. Dieses Mal lautete die einfache Idee: Ich fahre zum nördlichsten Zipfel Europas.

Wie haben Sie sich darauf vorbereitet?

Rückblickend betrachtet … nicht besonders gut! (lacht) Die meiste Vorbereitung galt Ersatzteilen für das in die Jahre gekommene Motorrad. Ich wusste, dass ich dort, wo ich hinfuhr, nicht erwarten konnte, welche zu bekommen. Also stellte ich sicher, dass ich die gängigen Verschleißteile hatte: Kupplungs- und Bremskabel, Ölfilter und Werkzeug. Außerdem baute ich Gepäckträger an das Motorrad. Dazu kamen Lebensmittel. Ich ernähre mich vegan, was in Norwegen nicht selbstverständlich ist. Also packte ich vakuumverpackte Mahlzeiten ein, genug für die gesamte Reise. Eine meiner Satteltaschen war randvoll mit Essen!

Ich hatte viel Energie in das Motorrad und die Lebensmittel gesteckt. Außerdem packte ich Dinge wie ein Erste-Hilfe-Set ein. Aber meinen persönlichen Komfort habe ich komplett vernachlässigt. Ich bin ein etwas unkonventioneller Typ. Wenn mir also jemand besonders funktionelle Kleidung empfiehlt, schaue ich eher danach, ob sie auch ‚cool‘ aussieht. Ich habe es gerne lässig und rau – und das war keine so gute Idee.

Ich hatte die Kälte unterschätzt.

Klingt, als hätten Sie öfter mal gefroren …

(lacht) Und wie! Ich meine, Kälte sollte niemanden überraschen, der nach Norwegen fährt. Aber ich hatte das unterschätzt.

Hat die Kälte Ihr Fahrvermögen beeinflusst?

Definitiv. Wenn man friert, ist es schwer, sich zu konzentrieren – man funktioniert einfach nicht gut. Auf dem Motorrad muss man viel mit dem Körper arbeiten. Aber wenn man gefühlt erfriert und sich kaum bewegt, damit möglichst wenig Wind in die Kleidung weht, dann fährt man nicht gut. Mit kalten Händen fällt die Bedienung der Maschine schwer, also fährt man deutlich langsamer oder hält zum Aufwärmen an, einfach weil es unsicher ist. Insofern würde ich sagen, Wohlbefinden ist essenziell für die Verkehrssicherheit.

Haben Sie neben dem Motorrad auch sich selbst vorbereitet, etwa indem Sie vorab Fahrtechniken geübt haben?

Nicht speziell, denn ich hatte in der Vergangenheit bereits etliche Trainings absolviert. Ich habe an einem polizeilichen Fahrtraining teilgenommen, die California Superbike School [eine an Rennfahrerinnen und Rennfahrer gerichtete Motorradfahrschule, Anmerkung der Redaktion] besucht und viel zum Thema gelesen. Zudem hatte ich viel Vorerfahrung aus meiner Zeit als Motorradrennfahrer.

Als das erste Reh vor mir auftauchte, sagte ich mir: "Okay, geh es entspannt an und bleib wachsam."

Gab es unterwegs weitere Herausforderungen? Wie waren die Straßenverhältnisse, gab es große Unterschiede auf dem Weg durch sechs verschiedene Länder?

Die Straßenverhältnisse waren überall ziemlich gut. Was mich hingegen sprichwörtlich ‚kalt erwischt‘ hatte, waren die norwegischen Tunnel. Dort oben gibt es eine Menge davon und einige sind ziemlich lang. Auch wenn es draußen warm und trocken war, fuhr ich oft kilometerweit durch kalte, feuchte und dunkle Tunnel. Ohne wärmende Kleidung plötzlich in einen verdammt kalten Tunnel einfahren – das ist schon ein kleiner Schock für den Körper.

Eine andere Herausforderung war Wildwechsel: Auf dem Rückweg fuhr ich durch Schweden, dort gab es viele lange Abschnitte, die durch Waldgebiete führten. Drei- oder viermal sprang währenddessen ein Reh auf die Straße. Ich musste also sehr vorsichtig sein und besonders vorausschauend fahren. Vor allem weil die Bedingungen ansonsten gut waren und es verlockend war, möglichst schnell nach Hause zu kommen. Aber als das erste Reh vor mir auftauchte, sagte ich mir: ‚Okay, geh es entspannt an und bleib wachsam.‘

Waren Ihre bisherigen Erfahrungen und Fahrtrainings in diesen Situationen hilfreich?

Ja, ich denke schon. Ich würde jedoch zögern zu sagen, dass es auf eine bestimmte Fähigkeit ankam. Wichtiger ist aus meiner Sicht ein generelles Selbstbewusstsein. Nicht im Sinne von Übermut, sondern im Vertrauen auf die eigene Wahrnehmung und das eigene Können, das hilft in solchen Situationen. Zum Beispiel, wenn das Motorrad wegrutscht. Bevor es zum ersten Mal passiert, hat man furchtbare Angst davor. Beim zweiten Mal hingegen denkt man: ‚Oh, das kenne ich schon‘, dann ist es nicht mehr so furchteinflößend.

Was auch eine Rolle spielt: wenn man nichts und niemand etwas beweisen muss. Alleine muss man nicht mit anderen mithalten, keine Show machen. Man kann sich so viel Zeit nehmen, wie man möchte, ein Vorteil für die Sicherheit.

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Am Ziel: Nach tausenden Kilometern auf dem Motorrad steht Mike am Nordkap.
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Entlang der norwegischen Westküste fuhr Mike Dodd nach Norden.
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Viele Kurven und wechselnde Lichtverhältnisse erfordern viel Aufmerksamkeit.
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Je weiter nördlich, desto dünner besiedelt die Landschaft.
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Trotz der Kulisse fiel es Mike leicht, sich auf die Straße zu konzentrieren.
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Die Reise wirkte sich positiv auf Mikes mentale Gesundheit aus.
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Seine Eindrücke und Erlebnisse hat Mike Dodd gemeinsam mit Lena Siep in dem Buch ‚fjordwärts‘ festgehalten.
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Am Ziel: Nach tausenden Kilometern auf dem Motorrad steht Mike am Nordkap.
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Entlang der norwegischen Westküste fuhr Mike Dodd nach Norden.

Jeden Tag vielfältige neue Eindrücke, Landschaften und Menschen. Wie konnten Sie sich trotz solcher Ablenkungen auf die Straße und den Verkehr vor Ihnen konzentrieren?

Das fiel mir gar nicht schwer, im Gegenteil. Ich fahre unglaublich gerne Motorrad und habe die Reise in erster Linie deswegen und nicht wegen der Sehenswürdigkeiten gemacht. Unterwegs war ich so sehr auf das Fahren, die Maschine und die Straße fokussiert, dass ich die Landschaft eher ausgeblendet habe.

Anfangs habe ich oft angehalten oder einen Umweg gemacht, wenn es etwas zu entdecken gab. Aber das ging so weit, dass ich einsehen musste: Wenn ich so weitermache, dann komme ich nirgendwo hin. Also habe ich mich auf die Straße konzentriert und Strecke gemacht.

Wie lange waren Sie pro Tag unterwegs?

Im Durchschnitt saß ich neun Stunden im Sattel. Mal mehr, mal weniger, je nach den Bedingungen. An manchen Tagen waren es 26 Kilometer, an anderen 500.

Eine Besonderheit war, dass es, je weiter ich nach Norden kam, nachts nicht mehr dunkel wurde. Manchmal erwischte ich mich dabei, wie ich um neun oder zehn Uhr abends immer noch fuhr. Die Sonne schien noch und plötzlich merkte ich: ‚Oh, ich sollte demnächst anhalten!‘ Es war leicht, bis spät in die Nacht zu fahren. Darauf musste ich immer ein Auge haben.

Wie haben Sie sich nach neun Stunden im Sattel fit gehalten?

Ich habe nicht genug für meine Physis getan. Ich habe viel Zeit auf dem Motorrad verbracht und hätte abends mehr tun sollen, etwa dehnen oder laufen gehen. Immerhin, ich habe mich sehr gesund ernährt: viel Avocado und Ingwer auf Knäckebrot, dunkle Schokolade, solche Sachen. Außerdem habe ich viel getrunken, das hat mich fit gehalten. Ich habe unterwegs sogar abgenommen, wahrscheinlich vom gesunden Essen, vom Verzicht auf Alkohol – und mein Körper hat sicher viel Energie gebraucht, um mich warm zu halten! (lacht)

Was das Mentale betrifft – das war ohnehin der ausschlaggebende Grund für diese Reise, und dafür war sie großartig. Weil ich recht stur bin, hatte ich keinen bequemen, warmen, leisen Helm auf. Ich habe einen Retrohelm getragen, weil ich dachte, das wäre cooler. Stattdessen war er vor allem laut.

Während der Fahrt gab es nur mich und meine Gedanken. Und das war wahnsinnig wohltuend. Unterwegs habe ich viel verarbeitet und reflektiert. Meine mentale Gesundheit war nach meiner Rückkehr viel besser als vor der Abfahrt.

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Seine Kleidung sah zwar ‚cool‘ aus, hielt ihn aber nicht sonderlich warm.
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Die Fotos entstanden mithilfe eines kleinen Stativs und per Selbstauslöser. Auf dem Motorrad nahm Mike die Kamera nicht in die Hand.
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Aufwärmen in der Sonne – und nebenbei die Landschaft genießen.
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Viele Nächte verbrachte Mike im Zelt – mal an einem Ufer, mal direkt am Straßenrand.
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Wenn unterwegs eine Reparatur anstand, halfen Mike oft die Mitglieder von Oldtimer-Clubs weiter.
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Auf einem über 40 Jahre alten Motorrad fuhr Mike Dodd von London zum Nordkap.
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Unterwegs achtete Mike auf eine gesunde Ernährung.
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Seine Kleidung sah zwar ‚cool‘ aus, hielt ihn aber nicht sonderlich warm.
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Die Fotos entstanden mithilfe eines kleinen Stativs und per Selbstauslöser. Auf dem Motorrad nahm Mike die Kamera nicht in die Hand.

Rückblickend betrachtet, was ist Ihre schönste Erinnerung an diese Reise?

Der Ort, den ich am schönsten fand: Senja, eine kleine norwegische Insel sehr weit im Norden. Ich habe sie komplett umrundet und hinter jeder Kurve dachte ich: ‚Unglaublich!‘ Dort entstand das Coverfoto für mein Buch. Einer der schönsten Orte, an dem ich je war.

Welche Tipps würden Sie anderen Motorradfahrerinnen und -fahrern, die einen solchen Trip planen, mit auf den Weg geben?

Man sollte dafür sorgen, dass man sich wohlfühlt. Dann hält man insgesamt viel mehr aus. Eine Panne, Schwierigkeiten bei der Suche nach einem Schlafplatz, schlechtes Essen, was auch immer – solange man es warm und komfortabel hat, sind solche Dinge nicht weiter schlimm. Umgekehrt: Wenn man sich nicht wohlfühlt, nerven auch Kleinigkeiten ganz schnell. Nicht, dass dann eine komplette Reise ins Wasser fällt, aber wenn man sich schlecht konzentrieren kann und der Kopf nicht frei ist, sollte man nicht am Straßenverkehr teilnehmen.

Bilder: Mike Dodd