21. Dezember 2021

Ein strahlendes Weihnachtswunder

Weihnachten steht bevor. Doch der Weg auf winterlichen Straßen birgt manche Risiken. Eine festliche Kurzgeschichte.

5 Minuten

Felix muss sich die Ohren zuhalten, als das blaue Auto neben ihm an der Ampel hupt. Hektisch wechseln die Menschen schon bei Rot die Straßenseite. Heute ist es recht voll in der Innenstadt. Kein Wunder: Es ist der 24. Dezember. Anscheinend haben noch ein paar mehr Leute vergessen, die letzten Geschenke zu kaufen. Das Einzige, was Felix bei all dem Stress und der Hektik einen Hauch von Festtagsstimmung vermittelt: das Glänzen der weihnachtlichen Beleuchtung.

Mit seinem E-Scooter schlängelt er sich an den Menschen vorbei, die immer wieder auf dem Radweg stehen bleiben. Schnell noch ins Kaufhaus und danach zum Fahrradhändler. Auf seiner Liste stehen ein Videospiel für Neffe Vincent und ein Fahrradhelm für seine Nichte Leyla. Sie braucht dringend einen neuen, der alte ist ihr zu klein geworden.

Eine lange Parkplatzsuche entfällt für Felix. Schnell findet er einen Abstellplatz für den E-Scooter, fernab der Fußgängerzone. Da steht der Elektroroller niemandem im Weg. Das Spiel für Vincent hat Felix schnell besorgt. Nun geht er weiter zum Fahrradhändler. „Größe M“ steht auf dem zerknüllten Einkaufszettel, den sein Bruder Chris ihm geschrieben hat. Daneben hat sein Bruder das konkrete Modell notiert, welches er vergangene Woche schon mit der kleinen Leyla probiert hat. Kaum im Laden angekommen, sieht Felix seinen leuchtenden Schatz im Regal stehen. Grellgelb ist das Modell, das er ausgesucht hat. 

Gerade als er den Helm bezahlen möchte, klingelt sein Telefon. Die Anruferin: seine Schwägerin Myriam. Umgeben von einem Berg aus Schleifen und Geschenkpapier hat sie panisch seine Nummer gewählt. „Bist du noch in der Stadt?“, fragt sie Felix unruhig. „Ja, ich stehe gerade an der Kasse im Fahrradladen.“ Weiter kann er nicht erzählen, Myriam fällt ihm schon ins Wort. Sie erklärt, dass das Geschenk für Oma Susanne immer noch nicht geliefert wurde. „Könntest du in der Stadt schauen, ob du Räuchermännchen findest? Einen Schneemann auf einem Schlitten, den hat sie sich gewünscht“, sagt Myriam. Felix macht sich auf die Suche.

 

Myriam atmet durch und geht in die Küche. Angespannt rührt sie mit einem Löffel den Kartoffelsalat um. In diesem Moment huscht ihr Mann Chris durch die Küche. Erschrocken schaut sie ihn an: „Wolltest du nicht schon lange losfahren? Komm, beeil dich, sonst bekommen wir bloß wieder eine kleine Nordmanntanne, bei der die Hälfte der Nadeln fehlt.“ Genervt verdreht ihr Ehemann die Augen und verlässt die Küche. 

Chris schnappt sich die Autoschlüssel und seinen Schal. Auf dem Weg zum Wagen bindet er das rote Tuch um. Es ist ganz schön frostig geworden, denkt er. Sein skeptischer Blick wandert in Richtung Himmel. Vielleicht schneit es heute Abend sogar. Er setzt sich in den geräumigen Familienwagen und schaltet das Radio ein. Sofort tönt ihm eine schrille Stimme entgegen. Der Radiomoderator kündigt den nächsten Weihnachtshit an. „Spätestens jetzt hat wohl auch der Letzte mitbekommen, dass heute Heiligabend ist“, brummt Chris leise vor sich hin. Er schnauft bei dem Anblick des Straßenverkehrs. Die Autos stehen wie ein langer Weihnachtszug auf der Straße. Kommt eins in Bewegung, zieht es eine ganze Schlange mit sich. Nur der durchdringende Klang der Hupen übertönen die nervigen Weihnachtshymnen. Immer wieder wechselt Chris den Radiosender. Abgelenkt von der Musiksuche und seiner schlechten Laune bemerkt er nicht, dass er auf der falschen Abbiegespur steht. „Mist“, ärgert er sich lautstark, als er seinen Fehler bemerkt. Mühevoll wechselt er von Fahrstreifen zu Fahrstreifen, bis er auf der linken Seite angekommen ist. Endlich ist das Tannen-Paradies in Sicht. Er schlendert durch die Gänge. Es dauert nicht lang, dann findet er es: das Prachtstück, die perfekte Nordmanntanne. Von dem muskulösen Verkäufer mit Weihnachtsmütze lässt er sich den Lichterbaum in ein Netz einpacken. Zusammen befestigen sie mit Spanngurten den Baum auf dem Autodach. Vorn und hinten darf der Baum nicht zu weit heraushängen oder Chris die Sicht versperren. Der Familienvater macht den Test und ist bereit zur Abfahrt. Schlüssel umgedreht, Motor gestartet – und schon ertönt der nächste Weihnachtssong. Kurz bevor er losfährt, hört er im Verkehrsfunk, dass es auf seinem Heimweg einen Unfall gegeben hat. „Ausgerechnet an Weihnachten, wie schrecklich“, denkt er.

„Was für ein Umweg“, denkt sich Chris. Um die Unfallstelle auf dem Heimweg zu umfahren, muss er einen großen Bogen machen. Als er in seine Straße einbiegt, sieht er Vincent schon mit Oma Susanne auf dem Hof. Zusammen hieven die beiden Männer den Baum vom Dach des Wagens und tragen ihn rein. Geschafft! Seinem Sohn gibt er nun die Autoschlüssel, um sich dann zusammen mit der kleinen Leyla dem Weihnachtsbaum zu widmen..  

Angeschnallt, fertig, los: „Richtung Bauernhof“, sagt Susanne ihrem Enkelsohn. „Schön, dass du uns hinfährst.“ Kaum unterwegs, klingelt Susannes Handy in der Tasche, sie beginnt zu plaudern. Währenddessen kneift Vincent immer wieder die Augen zusammen. Es fällt ihm schwer, sich auf die Straße zu konzentrieren. Das Kichern seiner Oma versucht er auszublenden. Aber keine Chance. Susanne lenkt ihn zu sehr ab. Plötzlich blinkt er rechts und stellt den Motor aus. Sie legt verwundert auf. „Dein Gespräch lenkt mich total ab. Kannst du vielleicht später weitersprechen? Ich brauche hier echt deine Unterstützung“, erklärt der nervöse Vincent. Ihre weitere Fahrt führt die beiden auf die Landstraße statdauswärts. Eng aneinandergereihte Bäume weisen ihm die Richtung. Vincent biegt in einen holprigen Weg ein. Die nasse Erde macht es nicht einfach drüberzufahren. Er tritt auf die Bremse und fährt nun deutlich langsamer. Vermutlich hat es hier gestern geregnet. Der Enkel stellt den Wagen vor einem weitläufigen Dreiseitenhof ab. Susanne läuft zum Hofladen, vor dem eine bunt angeleuchtete Holzleiter steht, um dort die bestellte Gans abzuholen. Nach einem Plausch mit der Landwirtin treten beide die Heimfahrt an. Als Vincent wieder zurück auf die Straße fahren möchte, merkt er, dass die Reifen leicht rutschig sind. Nasse Erde macht sie weniger griffig. Nun fällt dem 17-Jährigen das Fahren noch schwerer. „Bleib ganz ruhig. Wir haben ausreichend Zeit, uns drängt nichts“, beruhigt ihn Susanne. Vincent atmet tief durch. Eine echte Herausforderung.

Nachdem Felix nun wirklich alle Geschenke besorgt hat, geht er noch zu einem Glühweinstand. „Weiß oder rot?“, fragt die Verkäuferin. „Nein, lieber nur einen Kinderpunsch. Ich fahre später noch“, sagt Felix, vollkommen erschöpft von der Geschenkeprozedur in letzter Minute. Er lehnt sich zurück an die Wand der Hütte. Nun kann die Bescherung kommen. Er greift zum Handy, doch das reagiert nicht. Akku leer. Dann muss er Myriam später Bescheid geben, dass er den Räuchermann bekommen hat. Die ersten weißen Flocken verfangen sich in seinem braunen Haar. In aller Ruhe genießt er seinen Punsch. Er hievt den Rucksack voller Weihnachtsüberraschungen auf den Rücken und schwingt sich auf seinen E-Scooter. 

Als Myriam ein Auto vor dem Haus vorfahren hört, eilt sie schnell zum Fenster. Doch statt des erhofften Pakets mit dem Räuchermännchen, fährt Vincent gerade rückwärts die Auffahrt hoch. Wieder nichts. Und von Felix hat sie immer noch nichts gehört. Kein gutes Zeichen, da ist sie sich sicher. „Bestimmt sind die Räuchermännchen ausverkauft!" Nun wird es wirklich eng. Es ist bereits 14 Uhr. 

Mit einem schweren Weihnachtssack voller Überraschungen spaziert nun auch Felix die Straße entlang. „Als wäre ich der Weihnachtsmann persönlich“, denkt er und muss – trotz der Tortur – schmunzeln. Zufrieden klopft er an die Tür. Als würde sie direkt dahinter lauern, öffnet Myriam. „Warum gehst du denn nicht ans Telefon?“ „Akku alle“, erklärt Felix. „Aber keine Panik, ich habe alles bekommen.“ Myriam umarmt ihn erleichtert. Gerade als die beiden ins Haus gehen wollen, um den Räuchermann in festliches Papier zu verpacken, klingelt eine Botin mit einem Paket in der Hand. Ihr Blick fällt auf ihr Päckchen, dann auf das Paket in Felix Hand. Beide müssen grinsen. Jetzt kann Weihnachten kommen.

Illustrationen: Marcel Domke