Revierkampf auf der Straße

Der Konflikt zwischen Rad- und Autofahrenden aus Expertensicht.

09. Juni 2017
6 Minuten

Kaum ein Konflikt im Straßenverkehr ist so gefährlich wie der zwischen Radlern und Autofahrern – und kaum eine Auseinandersetzung wird so aggressiv geführt. Woran liegt das? Und wie lässt es sich verhindern? Verkehrspsychologe Haiko Ackermann über vermeidbaren Streit, vergessene Schulterblicke und fehlendes Einfühlungsvermögen.

„Einmal hab ich sogar gesehen, wie ein Radfahrer bei einem Autofahrer die Scheibenwischer umgebogen hat“, erzählt Haiko Ackermann. „Und dann ist er einfach weggefahren. So kann man mit Konflikten natürlich auch umgehen.“ Der Griff an den Scheibenwischer mag besonders aggressiv sein, doch spiegelt er ein grundsätzliches Konfliktpotenzial wider.

Laut dem Fahrrad-Monitor des Bundesministeriums für Digitales und Verkehr (BMDV) fühlt sich etwa jeder zweite Radfahrer in Deutschland im Straßenverkehr nicht sicher – und knapp zwei Drittel von ihnen machen rücksichtslose Autofahrer dafür verantwortlich. Umgekehrt sagen fast drei Viertel der Menschen in Deutschland, dass viele Radfahrer durch ihre Fahrweise den Straßenverkehr eher unsicher machen. Kein Wunder, dass es zwischen Rad- und Autofahrern immer wieder zum Streit kommt.

Bild 4 von 4
Dabei helfe oft schon ein Perspektivenwechsel, um die Situation zu deeskalieren, weiß Ackermann.
Bild 1 von 4
Verkehrspsychologe Haiko Ackermann kennt die Konflikte zwischen Radlern und Autofahrern.
Bild 2 von 4
Mit seinem Berliner Unternehmen "Plan B" berät er seit vielen Jahren Verkehrssünder.
Bild 3 von 4
Hupen, Klingeln, Beleidigen: An großen Kreuzungen geraten Auto- und Radfahrer schnell aneinander.
Bild 4 von 4
Dabei helfe oft schon ein Perspektivenwechsel, um die Situation zu deeskalieren, weiß Ackermann.
Bild 1 von 4
Verkehrspsychologe Haiko Ackermann kennt die Konflikte zwischen Radlern und Autofahrern.

Gebrüllte Beleidigungen, böse Gesten

Hupen und Klingeln gehören noch zu den harmlosen Varianten. An der Tagesordnung sind aber auch gebrüllte Beleidigungen, obzöne Gesten oder das Klopfen aufs Dach vermeintlich störender Autos. „Die Konflikte werden in der Tat sehr aggressiv ausgetragen“, sagt Ackermann. Er kennt diese Grenzsituationen im Straßenverkehr zur Genüge, denn er spricht täglich darüber. Erst war er selbst Gutachter für die Medizinisch-Psychologische Untersuchung (MPU), seit 2003 hilft er mit seinem Berliner Beratungsunternehmen „Plan B“ Verkehrssündern bei der Vorbereitung darauf.

Warum zur Medizinisch-Psychologischen Untersuchung (MPU)?

Wer mit Alkohol oder Drogen am Steuer erwischt wird, zu viele Punkte in Flensburg sammelt oder anderweitig wiederholt auffällig wird, muss sich der MPU unterziehen. Ansonsten droht der dauerhafte Verlust der Fahrerlaubnis. Das Ziel der Untersuchung: Festzustellen, ob jemand charakterlich und psychisch überhaupt für die motorisierte Teilnahme am Straßenverkehr geeignet ist.

Revierverteidigung – wie im Tierreich

Ackermann weiß daher genau, was in Extremsituationen im Kopf von Radlern, Autofahrern und anderen Verkehrsteilnehmern passiert. Und er kennt die Mechanismen, die Konflikte eskalieren lassen. „Fahrradfahrer sind ja in der Regel auf der Straße unterwegs, Autofahrer nehmen sie da als Eindringlinge war“, erklärt er. „Das ist dann eine Art Revierverteidigung – wie im Tierreich.“

Allein das erklärt natürlich noch nicht, warum es zwischen den beiden Parteien so unversöhnlich zugeht. Der archaische Drang, das eigene Revier behaupten zu wollen, ist jedoch ein wichtiger Grund für den Dauerstreit. Und der lässt sich an fast jeder größeren Kreuzung in deutschen Innenstädten beobachten.

Ungeschützt in Lebensgefahr

So beispielsweise in Berlin-Mitte, wo sich mit Chaussee- und Torstraße zwei wichtige Verkehrsachsen kreuzen. Selbst zur Mittagszeit herrscht hier dichter Verkehr. Pkw und Lkw fahren auf ein bis zwei Spuren, eine Tramlinie zieht mittendrin ihre Bahnen und überall laufen Fußgänger herum. Dazu kommen vom zögerlichen Touristen über den routinierten Pendler bis hin zum Radkurier, der sich mit halsbrecherischen Manövern quer durch das Chaos schlängelt, Fahrradfahrer aller Art.

Ordentlich Adrenalin im Blut

Zum Schutz tragen sie zwar häufig einen Helm – haben aber keinerlei Knautschzone. Kein Wunder, dass in solchen Situationen ordentlich Adrenalin im Spiel ist. „Der Radfahrer ist ungeschützt und hat Angst vor Autofahrern“, erklärt Ackermann und erzählt von Studien, nach denen zwei Drittel der Radfahrer sich im Straßenverkehr von Autofahrern bedrängt und gefährdet fühlen.

Nicht zu Unrecht, wie Zahlen des Statistischen Bundesamts zeigen: 2018 wurden demnach innerorts 84.925 Fahrradfahrer bei Unfällen im Straßenverkehr verletzt oder getötet. Deutlich mehr als zum Beispiel Fußgänger, von denen innerorts 33.809 verletzt oder getötet wurden (Statistisches Bundesamt, Zahlen 2018).

2018 wurden 84.925 Fahrradfahrer bei Unfällen im Straßenverkehr verletzt.

Gut möglich, dass diese Diskrepanz in Zukunft sogar noch wächst: Denn während Autos technisch immer sicherer werden – und das nicht nur für die Insassen, sondern dank Konstruktionsveränderungen auch für Fußgänger – spielt der Radfahrerschutz beim Autobau bisher kaum eine Rolle. Darauf weist die Unfallforschung der Versicherer (UDV) in einer 2015 veröffentlichten Studie hin. Deutlich senken ließe sich die Gefahr tödlicher Unfälle technisch am besten mit einem Notbremsassistenten in jedem Pkw, so die UDV. Besonders weit verbreitet sind solche Systeme bisher aber noch nicht.

Radfahrer als Verkehrshindernis

Wer also Autos als Bedrohung für Leib und Leben wahrnimmt, reagiert in brenzligen Situationen schnell aggressiv. Der Autofahrer erlebt den Verkehr zwar anders, verhält sich im Ergebnis aber ähnlich. „Im Auto habe ich natürlich ein ganz anderes Selbstverständnis“, sagt Ackermann. „Da bin ich geschützt und in einer Machtposition.“ Radler sind dann nicht nur Eindringlinge ins eigene Revier, sondern auch nervige Verkehrshindernisse – vor allem, wenn sie ohne Licht unterwegs sind, bei Rot über die Kreuzung fahren oder sich anderweitig nicht an die Regeln halten.

Vielen geht die Fähigkeit ab, sich in andere hineinzuversetzen.

Umgekehrt verhalten sich Autofahrer auch nicht immer vorbildlich. Ein typisches Beispiel ist die Situation, in der ein Autofahrer rechts abbiegen will, ein Radler auf der gleichen Straße aber geradeaus weiterfährt. „Autofahrer vergessen da häufig den Schulterblick“, sagt Ackermann. „Das ist eine der Hauptunfallursachen.“

Der Perspektivwechsel fällt schwer

Radler fühlen sich also bedroht, Autofahrer sind genervt, und jeder regt sich über den anderen auf. Die psychologischen Prozesse, die dabei ablaufen, sind Verkehrsteilnehmern häufig gar nicht bewusst. „Wenn Sie die Leute fragen, haben sie gar nichts gegen Rad- oder Autofahrer“, erklärt Ackermann. „Das kommt dann erst in der Situation.“

Direkt zur Eskalation

Das geht oft so weit, dass sich der gleiche Mensch auf dem Fahrradsattel fürchterlich über rücksichtslose Autofahrer ärgert – und dann kurze Zeit später hinter dem Steuer des eigenen Autos über nervige Radfahrer schimpft. „Vielen geht die Fähigkeit ab, sich in andere hineinzuversetzen“, erklärt Ackermann das.

Dieser fehlende Perspektivwechsel führt dann in Konfliktsituationen direkt in die Eskalation. Denn wer im Straßenverkehr einen Fehler macht, ärgert sich meistens schon genug über sich selbst. Er will aber nicht, dass andere auf ihm herumhacken. „Wenn dann gehupt oder geschimpft wird, reagiere ich aggressiv“, so der Psychologe.

Aushebeln lässt sich dieser Mechanismus nur mit Rücksicht, Ruhe und Einfühlungsvermögen. „Ich muss eben beachten, dass andere Leute das genauso empfinden wie ich“, rät Ackermann. „Und dass auch andere Leute Fehler machen können.“ Wer dann nicht sofort hupt, blinkt, den Vogel zeigt oder schimpft, geht vielleicht den entscheidenden Schritt Richtung Deeskalation – genau wie jemand, der nicht in jeder Situation auf seiner Vorfahrt beharrt.

Rücksichtnahme, Ruhe und Einfühlungsvermögen statt Eskalation.

Noch besser ist natürlich, wenn solche Konfliktsituationen gar nicht erst entstehen. Auch da lässt sich durch individuelles Verhalten viel erreichen, sagt Ackermann. Gute Verkehrsbeobachtung ist dafür beispielsweise ein Muss – für Autofahrer also etwa der Schulterblick beim Abbiegen. Radler seien hier aber genauso in der Pflicht, mahnt der Experte: „Die müssen die Wege von Autofahrern ein wenig vorausdenken und auch Fehler einplanen – sie dürfen also zum Beispiel nicht immer davon ausgehen, dass ein Autofahrer sie gesehen hat.“ Von diesen Perspektivwechseln auf der Straße profitierten laut Ackermann am Ende alle Verkehrsteilnehmer: Weniger Unfälle, weniger Tote und Verletzte – und weniger Streit.

Drei Radfahrer-Mythen

Rund um die Verkehrsregeln für Fahrradfahrer gibt es viele Mythen und gefährliches Halbwissen. Die wichtigsten Vorschriften im Überblick:

Wo fahren?

Die wichtigste Regel: Gibt es einen ausgewiesenen Radweg und ist dieser mit dem bekannten blauen Schild markiert, müssen Radler ihn auch benutzen. Auf die Straße dürfen sie dann nur ausweichen, wenn der separate Radweg zum Beispiel durch Eis und Schnee unpassierbar ist. Gibt es keinen Radweg, gehören Radler auf die Straße. Auf den Fußweg dürfen sie in der Regel nur, wenn Schilder es ausdrücklich erlauben. Für Kinder gelten hier besondere Regeln: Bis zu acht Jahren müssen Kinder auf dem Gehweg fahren und sie dürfen es noch weitere zwei Jahre. Je ein Erwachsener darf ein Kind bis zu acht Jahren dort begleiten.

Wie fahren?

Alkohol im Straßenverkehr ist auch für Radler tabu. Der Promillegrenzwert liegt hier allerdings bei 1,6 statt der für Autofahrer geltenden 0,5 – darüber ist der Führerschein weg. Wer auf zwei Rädern und mit weniger Alkohol im Blut einen Unfall verursacht, muss aber trotzdem mit einer Anzeige rechnen. Und auch sonst gelten für Radler gleiche Spielregeln wie für Autofahrer: So müssen sie sich zum Beispiel ebenfalls an Tempolimits halten, in verkehrsberuhigten Zonen zum Beispiel. Und telefonieren darf im Sattel nur, wer dabei eine Freisprecheinrichtung benutzt.

Wann fahren?

An Kreuzungen mit Auto- und Fußgängerampeln gibt es rund um Radfahrer oft Verwirrung. Seit Anfang 2017 gilt jedoch eine einheitliche Regelung: Gibt es keine separate Fahrradampel, müssen sich Radler an die Lichtsignale für Autofahrer halten – nicht wie bisher an die Fußgängerampel. Und gibt es einen Zebrastreifen, dürfen auch Radfahrer ihn zum Überqueren der Straße nutzen. Dabei müssen sie nicht unbedingt absteigen. Bleiben sie im Sattel sitzen, genießen sie aber nicht das besondere Schutzrecht für Fußgänger.

Bilder: Lucas Wahl

Weiterführende Links

Weiterführende Links:

Die Unfallforschung der Versicherer (UDV) zum Notbremsassistent

Mehr Informationen