31. Juli 2019

„Ich bin am Job nicht zerbrochen“

Der erste Crash-Test-Dummy der Geschichte im Interview.

6 Minuten

Seit Jahrzehnten sind Crash-Test-Dummys in der Unfallforschung unverzichtbar. Sie machen den härtesten Job der Welt und retten mit ihrer Arbeit Leben. Der erste Dummy der Geschichte heißt Sierra Sam. Seine Karriere startete beim US-Militär.

Erst später erkannte man auch in der Unfallforschung für Autos, welchen Mehrwert ein Dummy hat. Mit inzwischen 70 Jahren ist Sierra Sam der Grandseigneur seiner Zunft. Und neue Entwicklungen gefährden Arbeitsplätze zukünftiger Dummy-Generationen. Wie er das sieht? Ein fiktives Gespräch.

Herr Sam, Sie sind kürzlich 70 Jahre alt geworden. Ein stolzes Alter, wenn man bedenkt, dass Ihnen viel Schaden zugefügt wurde. Wie haben Sie das überstanden?

Ach, wissen Sie: Ein Dummy stirbt nicht – das sagt man bei uns in der Unfallforschung. Natürlich hat man mich in waghalsige Situationen gebracht: Ich wurde aus großer Höhe fallen gelassen oder man hat mich bei 1000 km/h auf einen Raketenschlitten gesetzt, der in weniger als einer Sekunde auf 0 km/h abbremst.

Ich habe mir all die Jahre ein Bein ausgerissen - um zu verstehen, wie Schleudersitze in Kampfjets beschaffen sein müssen. Aber: Man hat sich hinterher auch immer gut um mich gekümmert, mich aufgebaut.

Sie haben Ihre Karriere sehr früh begonnen – und sehen immer noch fit aus. Gehen Sie irgendwann in Rente?

Ich bin tatsächlich schon im Ruhestand. Alles hat seine Zeit. Die jüngeren Generationen gehen neue Wege. Das ist bei Menschen nicht anders als bei Crash-Test-Dummys. Die jüngere Generation profitiert von neuen Erkenntnissen und hat viele neue technische und digitale Möglichkeiten.

Wir in der Unfallforschung fördern die jüngsten. Trotzdem kann ich mit Stolz sagen, dass ich und meine direkten Nachfahren wie der Dummy namens Hybrid den Grundstein für die erfolgreiche Arbeit der heutigen Dummys gelegt haben.

Die Generationen der Crash-Test-Dummys

Sierra Sam war die erste Modellreihe von Crash-Test-Dummys der Geschichte. Die US-Luftwaffe baute die Modelle ab 1949, um sie unter anderem bei der Entwicklung von Schleudersitzen einzusetzen. Später wurden sie bei der Unfallforschung eingesetzt. Die Modelle waren allerdings nicht auf den Durchschnittsmann ausgerichtet, sondern entsprachen eher den Maßen von Mitgliedern des Militärs.

Hybrid I war der erste Dummy, der vor allem für die Unfallforschung mit Autos konzipiert wurde. Bereits zu Beginn der 1950er-Jahre entwickelt, wurden diese Modelle dem Menschen ähnlicher. Ihre Maße entsprachen in Größe, Gewicht und Proportionen den Durchschnittswerten der männlichen US-Amerikaner.

Hybrid II heißt die Weiterentwicklung aus dem Jahr 1972. Der Dummy war noch näher an den Menschen angelehnt. Die nachempfundenen Gelenke an Schulter und Knie sowie die Wirbelsäule wurden verbessert. Hier konnte bereits die Beschleunigung am Torso und am Kopf gemessen werden.

Hybrid III ist das am weitesten verbreitete Dummy-Modell, das seit 1976 kontinuierlich weiterentwickelt und bis heute in verschiedenen Ausführungen angefertigt wird. So gibt es große, mittlere und kleine Dummys, die unter anderem auch Autofahrerinnen oder Kinder unterschiedlicher Altersklassen verkörpern.

Thor ist das jüngste Nachfolgemodell der Hybrid-Reihe. Mit etwa 150 Messkanälen liefert er viele Daten, beispielsweise auch über Sensoren im Gesicht. Die Technik ist im Dummy verbaut, sodass die Testobjekte nicht mehr aufwendig verkabelt werden müssen. Der Name „Thor“ leitet sich vom Thorax ab und verweist auf die empfindlicheren und genaueren Messinstrumente insbesondere im Bereich des Rumpfes. Dort wird genau ermittelt, wie stark die jeweilige Körperstelle während des Unfalls belastet wird.

Inwiefern haben Sie den Grundstein für die erfolgreiche Arbeit Ihrer Nachkommen gelegt?

Zu meiner Zeit ging es in der Forschung schlicht darum, dafür zu sorgen, dass möglichst viele Autofahrer schwere Unfälle überleben. Sogar die Autoindustrie hat noch in den 1950er-Jahren behauptet, dass Fahrer einen Unfall nicht überleben könnten, bei dem sie etwa mit 50 km/h gegen eine Wand prallen. Wir konnten das Augenmerk auf die Sicherheitsrisiken lenken und immer besser aufzeigen, wodurch welche Verletzungen entstanden und wie sie abgemildert oder verhindert werden konnten.

Welche Risiken waren das?

Lenkräder und Armaturenbretter waren z.B. lange Zeit starr. Das bedeutet, dass sie sich bei Frontalaufprallen in den Fahrgastinnenraum gedrückt haben. Die Personen, die dort saßen, wurden praktisch aufgespießt oder erdrückt. Das konnten wir mit unseren Tests belegen. Die Automobilhersteller haben das Fahrzeugdesign daraufhin angepasst.

Heute tauchen Lenkräder bei Unfällen ab, überhaupt wird die Energie eines Aufpralls möglichst über den vorderen Teil des Wagens aufgefangen – die berühmte Knautschzone. Das Wichtigste dabei ist, dass die Fahrgastzelle stabil bleibt. Denn die ist sozusagen der Überlebensraum. Wir konnten nachweisen, dass Sicherheitsgurte die Zahlen der Unfalltoten deutlich reduzieren würden – später auch insbesondere in Verbindung mit Airbags.

Und heute liegt der Fokus nicht mehr ausschließlich darauf, Todesfälle zu vermeiden, es geht vermehrt auch darum, schwere Verletzungen zu verhindern. Wenn man so will haben wir dem Sicherheitsgurt zum Durchbruch verholfen. Und er hat sich dann auch in der Praxis mehr als bewährt.

Bei einem Unfall kann die 40- bis 50-fache Fallbeschleunigung der Erde auf den Körper wirken.

Wie können denn schwere Verletzungen künftig verhindert werden?

Da müssen wir intelligente Lösungen finden. Die Physik wird man nie ausschalten können. Die wirkt immer – egal wie stabil die Fahrgastzelle bleibt. Sie verformt sich zwar heute im Gegensatz zu früher kaum noch, aber trotzdem kann bei einem Unfall die 40- bis 50-fache Fallbeschleunigung der Erde auf den Körper wirken.

Zum Vergleich: Astronauten sind beim Start von Raketen etwa der drei- bis vierfachen Fallbeschleunigung ausgesetzt, in manchen Achterbahnen ist diese kurzfristig bis zu sechsfach, also „6 g“. Da können Sie echt froh sein, dass Dummys diese Arbeit täglich verrichten. Aber keine Sorge: Auch ich bin an dem Job nicht zerbrochen (lacht).

Wie zufrieden sind Sie mit der Dummy-Jugend?

Ich beobachte mit Freude, wie meine Nachkommen ihren Beitrag für mehr Verkehrssicherheit leisten. Sie arbeiten inzwischen hochdifferenziert, mit spezifischer Expertise: Wussten Sie, dass es für jede Art des Aufpralls bereits einen Dummy gibt? Für einen Aufprall an der Frontseite, für einen Seiten- oder einen Heckaufprall. Es gibt schwere Dummys, Kinder-Dummys und sogar Haustier-Dummys.

Und was mich besonders freut: In Sachen Gleichberechtigung kommt unsere Branche voran. Der Fokus lag lange Jahre auf männlichen Modellen. Inzwischen gibt es auch viele weibliche Dummys.

Ist die Unfallforschung damit auf ihrem Höhepunkt angelangt?

Wir sind sehr, sehr weit gekommen. Schauen Sie sich die Unfallzahlen an: Vor knapp 50 Jahren sind in Deutschland noch mehr als 21.000 Menschen im Jahr im Straßenverkehr gestorben, vor 30 Jahren waren es noch fast 10.000. 2018 waren es 3.270. Und das bei enormer Steigerung der Fahrzeugzahlen. Die Fahrzeugsicherheit und auch die Verbesserungen der Infrastruktur haben dazu erhebliche Beiträge geleistet. Aber jedes Verkehrsopfer ist eines zu viel. Deswegen gibt es noch eine Menge zu tun.

Zum Beispiel?

Nehmen Sie mich: Ich bin jetzt 70 Jahre alt. Die Über-60-Jährigen machen in Deutschland heutzutage deutlich mehr als ein Viertel der Bevölkerung aus. Vor 30 Jahren war nur gut jeder Fünfte 60 Jahre oder älter.

Mit der alternden Gesellschaft müssen wir vermehrt die körperlichen Bedingungen von Senioren in den Blick nehmen. Ich sag es mal technisch: Die biomechanische Belastbarkeit der Menschen nimmt im Alter ab. Das müssen auch die Dummys abbilden.

Vermissen Sie die Arbeit als Dummy?

Ach Gott, nein. Wissen Sie, mich konnten Sie damals vom Kran stürzen – und das Ganze am selben Tag noch ein zweites Mal. Das war noch Action. Die Arbeit heute erfordert hingegen mehr Geduld. Die habe ich nicht. Der Dummy der Generation Hybrid II musste zwei bis drei Tage lang kalibriert werden, bevor der Test läuft.

Und in der neuesten Generation Thor dauert das sogar zwei bis drei Wochen. Dafür bekommt man natürlich über die 150 Messkanäle sehr viel mehr Erkenntnisse über einen Unfall. Das treibt aber auch die Preise in die Höhe.

Was kostet denn so ein Dummy?

Für einen Hybrid III mit Messtechnik zahlen Sie gut 150.000 Euro, der Thor liegt bei knapp unter einer Million Euro. Der hat natürlich den Vorteil, dass die gesamte Messtechnik im Thorax steckt – sozusagen ein Digital Native.

Der Thor sitzt nicht mehr an Kabeln wie angeleint im Auto. Die Freiheit ist damit wieder größer. Aber trotzdem: Ich bin froh, all das heute von außen zu verfolgen. Meine Zeit ist vorbei.

Dann lassen Sie uns abschließend noch einen Blick in die Zukunft werfen: Werden dank der Dummys bald keine Menschen mehr im Straßenverkehr sterben?

Das werde ich sehr oft gefragt. Ich sage mal so: Wir sind auf einem guten Weg, wenn es darum geht, die Fahrzeuginsassen zu schützen. Aber natürlich gibt es noch andere Verkehrsteilnehmer wie Radfahrer und Fußgänger. Aber auch für diese gibt es immer mehr Dummys, genaue Untersuchungen und Sicherheitserkenntnisse, die sich z.B. in einen verbesserten Fußgänger-Aufprallschutz umsetzen lassen.

Ich bin sehr gespannt auf das autonome Fahren. Das wird unseren Berufsstand gehörig umkrempeln. Wie genau, das wage ich heute noch nicht zu prognostizieren, aber es könnte sein, dass unsere Arbeitsplätze gefährdet sind. Wobei wir dann natürlich umschulen können: Schaufensterpuppen bleiben sicherlich gefragt.

Danke für das Gespräch, Herr Sam.

Gern. Hat ja nicht wehgetan.

Bilder: Shutterstock