30. Juni 2021

Warum wird man zum Gaffer?

Warum werden Passantinnen und Passanten immer wieder zu Gaffern? Ein Verkehrspsychologe gibt Antworten.

4 Minuten

Immer wieder berichten Medien über Gaffer: Passantinnen und Passanten, die im Falle eines Unfalls nicht zu Helfenden, sondern zu teils schamlosen Schaulustigen werden. Im Interview spricht der Psychologe Jürgen Brenner-Hartmann, Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Verkehrspsychologie, über die Ursachen und Hintergründe des Beobachtens, die Unterschiede zur Schaulust und wie man sich davor schützt, selbst zum Gaffer zu werden.

Das folgende Szenario hat wohl jeder schon einmal erlebt: Im Alltag passiert plötzlich etwas Unvorhergesehenes oder Überraschendes und „wie von selbst“ widmet man diesem Geschehen seine volle Aufmerksamkeit. Was passiert in solchen Momenten mit uns?

Die Ausrichtung der Aufmerksamkeit auf bestimmte Geschehnisse ist eine Grundfunktion unserer Wahrnehmungsfähigkeit. Denn wir müssen ständig selektieren, was für uns im Moment wichtig ist. Unerwartete Ereignisse beanspruchen so viel unserer Aufmerksamkeit, weil sie zunächst bewertet werden müssen. Man muss wissen: Was passiert dort? Ist es für mich relevant? Muss ich reagieren? Bin ich in Gefahr? Das ist ein ganz natürlicher Vorgang.

Welche psychologische Funktion hat das Beobachten für uns als Menschen?

Das sind zwei Aspekte. Einerseits beobachten wir unsere Umwelt, weil wir uns darin und dazu verhalten müssen. Ganz simple Dinge, etwa wie: Muss ich einem Gegenstand ausweichen? Das ist biologisch verankert. Wir Menschen haben schon immer gelernt zu gucken: Welche Tiere rennen noch durch den Wald?
Das Beobachten der Umwelt ist der eine Faktor. Der zweite ist das Beobachten unserer Mitmenschen. Denn wir Menschen lernen hauptsächlich am Modell. Wir beobachten und ahmen Verhalten in bestimmten Situationen nach. Das ist die Basis unseres Lernens.

Also Entwicklung durch Beobachtung und Nachahmung.

Ja.

Gaffen: Diese Konsequenzen drohen

Gaffen ist kein Kavaliersdelikt, sondern kann als Ordnungswidrigkeit oder gar Straftat gewertet werden. Ersteres ist der Fall, wenn man sich einer öffentlichen Ansammlung anschließt oder sie nicht verlässt, obwohl man dazu mehrmals durch die Polizei aufgefordert wurde. Die Höhe des Bußgelds kann bis zu 1.000 Euro betragen. Eine Straftat begeht etwa, wer nach einem Unfall unbefugt Verunglückte filmt beziehungsweise ihren höchstpersönlichen Lebensbereich verletzt. Dies kann mit Geld- und Freiheitsstrafen von bis zu zwei Jahren bestraft werden. Ebenfalls strafbar macht sich, wer im Notfall entweder keine Hilfe leistet, obwohl dies erforderlich und zumutbar wäre, oder wer andere beim Hilfeleisten behindert. Beides wird mit einer Freiheitsstrafe von bis zu einem Jahr oder einer Geldstrafe geahndet.

Da ist ja zunächst nichts Verwerfliches dran.

Nein, gar nicht. Tatsächlich kämen wir ohne nur schwer vonstatten. Stellen Sie sich vor, Sie müssten alles, was Sie lernen wollen, erst einmal selbst ausprobieren und die negativen Konsequenzen erfahren. Kein guter Selektionsvorteil, evolutionär gesehen.

Ab welchem Punkt ist man aus Ihrer Sicht als Passant nicht mehr Beobachter, sondern Gaffer, wenn man Zeuge eines Unglücks wird?

Es ist ein Kontinuum, das dabei abläuft. Als Zeuge eines Unglücks passiert einem zunächst einmal etwas Ungewöhnliches. Das regt die Neugierde und die Aufmerksamkeit an. Bestenfalls ist man derjenige, der helfen kann, beistehen kann – wozu man ohnehin verpflichtet ist. Zum Gaffer wird man, wenn aus der Neugier und Hilfsbereitschaft Behinderung und Herabwürdigung werden. Aus Zuschauern werden Gaffer, wenn sie sich unangemessen verhalten. Beispielsweise durch das Behindern des Verkehrs nach einem Unfall. Oder sie verletzen durch das Filmen und Fotografieren der Unfallstelle die persönliche Schutzsphäre der Verunglückten. Schlimmstenfalls behindert man Rettungskräfte. Solche Dinge. Unter Umständen führt die Sensationslust als Extrem der Neugier gar zu strafbarem Verhalten.

„Bestenfalls ist man derjenige, der helfen kann, beistehen kann. Zum Gaffer wird man, wenn aus der Neugier und Hilfsbereitschaft Behinderung und Herabwürdigung werden.“

Das klingt nach fließenden Übergängen einerseits und dennoch sehr klar abgrenzbaren Verhaltensweisen andererseits.

Dem ist tatsächlich so. Im Grunde genommen sind wir in solchen Situationen aufgefordert, unseren Verstand einzuschalten. Zunächst hat man zwar das verständliche Gefühl: „Ich will wissen, was da los ist.“ Aber über diesen Impuls hinaus muss man die Emotionen zurückstellen und sich fragen: „Was mache ich gerade? Verhalte ich mich noch angemessen oder behindere ich andere? Ist mein Verhalten für den Betreffenden belastend?“ Da bin ich in meiner Verantwortung als soziales Wesen gefragt.

Es scheint, je drastischer ein Verkehrsunfall, desto mehr wird gegafft. Warum verleiten besonders solche Ereignisse zum Gaffen?

Ich bin mir gar nicht mal so sicher, ob man das unterschreiben kann. Man schaut generell hin, wenn Dinge außerhalb des Erwarteten ablaufen. Im Straßenverkehr haben wir häufig viele Zeugen für solche Ereignisse. Deshalb nehmen wir sie als Öffentlichkeit auch viel eher wahr, sie erhalten viel Aufmerksamkeit und landen schneller in der Presse. Es ist in unserer Gesellschaft etabliert, dass wir uns für Unfälle und für Unglücke interessieren. Zunächst aus dem vernünftigen Grund, dass wir sie für uns selber vermeiden wollen. Aber es gibt dann sehr schnell dieses Sekundärmotiv, die Sensationslust. Darüber berichten können, damit prahlen können, dass man etwas Besonderes erlebt hat, etwa in den sozialen Medien. Dort sieht man es sehr deutlich. Wenn das Sammeln solcher Sensationen, zum Motiv wird, dann wird es schwierig.

Wie widersteht man in einer unvorhergesehenen Situation dem Drang zu gaffen?

Indem man sich daran erinnert, dass man ein soziales Wesen in einem sozialen Umfeld ist und Verantwortung für andere hat. Und eben nicht den Impulsen nachgibt, sondern sich der Folgen seines Handelns bewusst ist. Anstatt zu gaffen sollte man kurz innehalten und sich fragen: Kann ich helfen? Das setzt zunächst voraus, dass man der Situation Aufmerksamkeit schenkt, was okay ist. Erreicht man als Erster einen Unfallort, ist man ohnehin zur Hilfe verpflichtet. Sind jedoch bereits Helfer anwesend und man stellt fest, dass man selbst zum Problem wird, dann sollte man die Unfallstelle verlassen.

Herr Brenner-Hartmann, wir danken Ihnen für das Gespräch.


Bilder: iStock