Von der Schulbank auf die Straße

Bewusstlos am Steuer – an der Landesrettungsschule in Halle trainieren angehende Notfallsrettende für den Ernstfall.

11. Oktober 2021
4 Minuten

Pascal Werner hat keine Zeit zu verlieren. Mit einem Rettungsrucksack auf dem Rücken und einem Beatmungsgerät in der Hand eilt er zu einer verletzten Person. Bewusstlos und mit einer Kopfverletzung liegt Lucas Jahn am Boden. Eine Straßenbahn hat den Verwundeten zuvor mitgeschleift. Auf Pascals Stirn glänzen kleine Schweißtropfen. Es könnte die Sonne sein, die brennt. Oder die Blicke aus der Menschentraube, die den Sanitäter genau beobachten. Jeder Handgriff muss sitzen. Sein Rettungskollege Lasse Oriwall kommt zur Unterstützung hinzu. Wie können die beiden den verletzten Lucas retten? Dieser liegt regungslos an der Haltestelle neben den Gleisen – doch zum Glück ist diese Situation nicht real.

Zwischen Routine und Überraschung

Pascal Werner übt für den Ernstfall. Der 20-Jährige ist Auszubildender im ersten Lehrjahr an der Landesrettungsschule der DRK- und ASB-Landesverbände Sachsen-Anhalt in Halle an der Saale. Innerhalb von drei Jahren lernt er alle medizinischen Grundlagen zur Erstversorgung von Notfällen. Dazu zählen auch zahlreiche Unfälle im Straßenverkehr. Allein im vergangenen Jahr gab es 327.550 Verletzte auf deutschen Straßen. Eine gute Erstversorgung am Unfallort entscheidet häufig über den weiteren Verlauf der Behandlung – und manchmal über Leben und Tod. Diese will gelernt sein. Deswegen stehen heute vor allem Unfälle im Straßenverkehr auf dem Lehrplan.

Bild 4 von 4
Bild 1 von 4
Bild 2 von 4
Bild 3 von 4
Bild 4 von 4
Bild 1 von 4

„Sind Ersthelfer vor Ort? Ist der Verletzte ansprechbar? Wie steht es um die Sauerstoffsättigung?“ Pascal hockt neben dem simulierenden Verletzten und untersucht ihn. Gemeinsam mit seinem Lehrer Sven Baumgarten hält der Azubi eine Vorbesprechung mit der Leitstelle ab. Pascal berät sich mit seinem Mitschüler Lasse Oriwall. Beide kontrollieren die Vitalwerte des Patienten. Erhöhter Puls. Flink greift Pascal zum Stethoskop und hört den Brustkorb des falschen Patienten ab. Verdacht auf Rippenfraktur. In der Folge eines Pneumothorax, einer gefährlichen Luftansammlung im Brustraum, kann sich die Lunge nicht mehr ausreichend ausdehnen und würde kollabieren. Lasse holt eine Infusion aus dem Rettungsrucksack, die er dem Patienten verabreicht. Sie füllt das Körpervolumen des Verletzten auf und schützt ihn vor einer inneren Blutung.

Sekundenschnelle Rettung

Wie weit ist es bis zum nächsten Krankenhaus? Brauchen wir für den Transport einen Rettungshubschrauber? Wann könnte der nächste Arzt da sein? Permanent müssen beide Azubis Entscheidungen treffen. Sie beschließen den Patienten mit dem Rettungswagen ins Krankenhaus zu transportieren. „Das war eine sehr gute Wahl“, schätzt Sven Baumgarten, Lehrer und Geschäftsführer der Landesrettungsschule, ein. Den Nacken stabilisieren die Schüler mit einer Halskrause. Lasse verbindet die Kopfplatzwunde. Um den verletzen Lucas ins Krankenhaus transportieren zu können, soll er mit der Schaufeltrage auf eine Vakuummatratze gehoben werden. Sie stabilisiert und immobilisiert die Wirbelsäule des Patienten. Sofort müssen zwei Passanten ran, um den Patienten mit der Trage heben zu können. „Wenn ich ,jetzt‘  sage, bitte anheben und das Brett drunter packen“, erklärt Pascal.  Der Lehrer schaut kritisch. Pascal und Lasse haben vergessen, das Becken auf der Schaufeltrage zu stabilisieren. „Ein grober Fehler. Die Wirbelsäule ist weiterhin beweglich. Außerdem waren die Beine nicht fixiert und die Länge der Schaufeltrage wurde nicht an den Patienten angepasst“, bemerkt der Lehrer.

Beim Blick auf die Uhr zeigt er sich hingegen versöhnlich. 15 Minuten hätten sie bei einem echten Einsatz, 20 Minuten mit Schmerzmedikation. Insgesamt 18 Minuten haben sie gebraucht. Bei Verkehrsunfällen mit Verletzten zählt jede Sekunde, denn im Ernstfall sollte der Patient innerhalb einer Stunde auf dem OP-Tisch liegen. Je schneller er am Unfallort versorgt und ins Krankenhaus transportiert werden kann, umso höher sind seine Überlebenschancen.

Das Fazit des Lehrers? Ein gelungener Einsatz. Insbesondere die Kommunikation untereinander und das Teamwork liefen gut. Die Azubis haben klare Anweisungen gegeben. Ein Punkt kam allerdings zu kurz – die eigene Sicherheit. Beide haben den fließenden Verkehr am Bahnsteig nicht aufgehalten. Beim Einsatz zähle auch immer die eigene Sicherheit, betont der Lehrer. „Sind keine anderen Rettungskräfte oder Polizei vor Ort, müsst ihr euch selbst absichern. Zum Beispiel könnt ihr mit dem Rettungswagen den Verkehr stoppen.“

Homeschooling statt Schulbank 

Schnell fällt auf: Die Ausbildung zum Notfallsanitäter lebt von der Praxis. „Ein echter Handwerksberuf“, wie Schülerin Lea Skubulta unterstreicht. Daher war der Ausbildungsbeginn pandemiebedingt nicht einfach. Die schulischen Grundlagen von zu Hause aus zu lernen fiel nicht immer leicht.

Jetzt gilt es umso mehr, praxisbezogene Erfahrungen zu sammeln. Die zweite Simulationsübung steht an. Mit geschlossenen Augen liegt Azubi Tobias Greiß über dem Lenkrad eines Wagens und täuscht seine Verletzungen vor. Sein Gesicht ist bleich geschminkt, aus dem Mund tropft eine rote Flüssigkeit. „Wir stehen auf der Autobahn und werden zu einem klassischen Auffahrunfall, zu einer Massenkarambolage gerufen“, gibt Sven Baumgarten vor.  

Spagat der Entscheidungen

Azubi André Müller eilt zum Unfallort. Die Atmung des Patienten ist flach. Der geöffnete Airbag hat den Oberkörper des Verletzten geprellt. Die Lage ist kritisch, der Patient droht innerlich zu verbluten. Dafür spricht der blutverschmierte Mund. André saugt den Mundraum des Verletzten ab, legt eine Atemmaske an. Der Patient stöhnt, ihm fehlt Sauerstoff im Blut. „Können Sie mich hören?“ Sein verletzter Mitschüler reagiert nicht. „Was hat er für ein Problem?“ André wird leicht nervös. Der 36-Jährige muss sich entscheiden, wie er den falschen Patienten retten möchte. Versorgt er ihn schonend oder holt er ihn grob nach einem Crash aus dem Wagen? „Er hätte längst aus dem Auto befreit werden müssen“, merkt sein Lehrer an. André erkennt die Zyanose, die Blaufärbung des Patienten nicht. „Ich bin gerade überfordert“, gibt der Schüler zu. „Ganz ruhig, alles ist gut. Atme tief ein. Dann geht es weiter“, sagt sein Mitschüler Pascal Werner. Die Schüler funktionieren als Team und halten zusammen. Sven Baumgarten ist trotzdem unzufrieden mit der Leistung. „Es gab zu wenig Kommunikation. Der Ton war zu nett. In der Realität wäre vermutlich die Lunge des Patienten zerrissen. Er hätte auf allen Ebenen gesundheitliche Probleme. Das wurde nicht erkannt.“ 

Sven Baumgarten weiß, wovon er spricht. Seit 30 Jahren arbeitet der Hallenser im Rettungsdienst. „Einen Patienten gut versorgt und bei vollem Bewusstsein in der Klinik abzugeben, entscheidet über seine weitere Lebensqualität.“ Der 49-Jährige zeigt sich nachdenklich. Einige Vorfälle vergisst man auch Jahre später nicht. Wütend machen ihn Gaffer, die ihn in der Arbeit behindern. „Möchten die wirklich Menschen sehen, die dort gerade sterben?“ Der fehlende Respekt enttäuscht ihn. „Hier braucht es ein höheres Strafmaß“, fordert der Lehrer.

Bild 2 von 2
Bild 1 von 2
Bild 2 von 2
Bild 1 von 2

Gaffen: Diese Konsequenzen drohen

Gaffen ist kein Kavaliersdelikt, sondern kann als Ordnungswidrigkeit oder gar Straftat gewertet werden. Ersteres ist der Fall, wenn man sich einer öffentlichen Ansammlung anschließt oder sie nicht verlässt, obwohl man dazu mehrmals durch die Polizei aufgefordert wurde. Die Höhe des Bußgelds kann bis zu 1.000 Euro betragen. Eine Straftat begeht etwa, wer nach einem Unfall unbefugt Verunglückte filmt beziehungsweise ihren höchstpersönlichen Lebensbereich verletzt. Dies kann mit Geld- und Freiheitsstrafen von bis zu zwei Jahren bestraft werden. Ebenfalls strafbar macht sich, wer im Notfall entweder keine Hilfe leistet, obwohl dies erforderlich und zumutbar wäre, oder wer andere beim Hilfeleisten behindert. Beides wird mit einer Freiheitsstrafe von bis zu einem Jahr oder einer Geldstrafe geahndet.

Bei der weiteren Prüfungsvorbereitung hilft auch das hauseigene Simulationszentrum der Schule. Von der Versorgung am Unfallort bis hin zur Übergabe im Krankenhaus wird hier realitätsnah trainiert. „Hier kann man sich in die Situationen reinversetzen – und sich Fehler erlauben“, sagt Lucas Jahn.

Bild 4 von 4
Bild 1 von 4
Bild 2 von 4
Bild 3 von 4
Bild 4 von 4
Bild 1 von 4

Erinnerungen an einen Erste-Hilfe-Kurs werden wach. Gemeinsam mit seiner Mitschülerin Juliane Kaden und seinem Mitschüler Tobias Greiß übt der 19-Jährige eine Wiederbelebung an einem Dummy. Zur Reanimation muss die Herzdruckmassage sitzen. Minutenlang drückt Juliane mit ihrem Handballen fest auf den Brustkorb. Konzentriert kniet sie über der Übungspuppe und drückt im Takt. Die Armbeuge darf nicht einknicken, der Druck geht vom Handballen aus. „Fester drücken!“, tönt es aus den Lautsprechern. Sechs Kameras halten jeden Schritt der Schüler fest. Im Nebenraum sitzt ein Lehrer, der die drei kritisch beobachtet. Fallen ihm Fehler auf, kann er so direkt eingreifen und kommentieren.

Erste Hilfe: So helfen Sie Verletzten

  • Helfer müssen eine Warnweste anziehen
  • Unfallstelle absichern 
  • Atmung kontrollieren und eventuell den Kopf des oder der Verletzten überstrecken 
  • Rettungsdienst unter der Notrufnummer 112 verständigen 
  • Wiederbelebungs- und Erste-Hilfe-Maßnahmen wie Herzdruckmassage durchführen
  • Verletzte betreuen bis Einsatzkräfte erscheinen

Um sein Wissen regelmäßig aufzufrischen, raten Experten den Erste-Hilfe-Kurs alle zwei Jahre zu wiederholen. 

„RTW Halle 1, bitte kommen“

Ungeübten schmerzt die Hand bereits beim Zusehen. Bis zu zwei Stunden kann eine Reanimation durchaus mal dauern, erklärt Lucas. Dies aber eher im Krankenhaus und nicht vor Ort. Während er das Modell  mit dem Atembeutel und der Beatmungsmaske beatmet  und den Kopf leicht überstreckt hält, kontrolliert Tobias die Vitalwerte. Ein EKG-Gerät simuliert den Herzschlag der Puppe. Immer wieder wechseln sie durch. „In dem Job muss man ein Teamplayer sein und sich gleichzeitig bestens auf seinem Fachgebiet auskennen“, sagt Juliane. Dabei sind auch kreative Lösungen gefordert. Man weiß nie, wohin und zu wem man fährt. Sie besprechen nächste Schritte, verlassen sich komplett auf ihre Teampartner. Als Nächstes tragen sie den künstlichen Patienten in den vollständig ausgerüsteten Rettungswagen. Lucas und Tobias kontrollieren erneut die Vitalwerte. Juliane greift zum Telefon und kündigt sie im Krankenhaus an. Nach einem erfolgreichen Transport übergeben sie den Patienten zur Versorgung in den Schockraum. Gerettet. Auch wenn es nur ein Modell ist. Für den Ernstfall sind die drei bestens gerüstet.

Bilder: Lucas Wahl