Auf dem weitläufigen Gelände in Berlin-Spandau steht ein unscheinbarer Container. Doch darin stecken jede Menge Technik, Bildschirme – und ein voll ausgestattetes Fahrercockpit eines Lastkraftwagens.
In diesem originalgetreuen Cockpit des Fahrsimulators erproben Lkw-Fahrende von Speditionsunternehmen und Rettungsorganisationen ihre Fähigkeiten. Doch heute sind es keine erfahrenen Trucker, die dort Platz nehmen. Es sind junge Fahrerinnen und Fahrer von morgen.
Eigentlich stehen um 9 Uhr morgens für die fünfte Klasse der Wilhelmstadt-Grundschule aus Spandau Gesellschaftswissenschaften oder Englisch auf dem Stundenplan. An diesem Dienstag ist jedoch alles anders. Heute tauschen sie die Schulbank gegen einen bequemen Fahrersitz aus Leder.
Es geht vor allem darum, den Blick eines Lkw-Fahrenden kennenzulernen. Welche Außenbereiche sind vom Sitz aus einsehbar und welche nicht? Wie fühlt es sich an, hinter dem Steuer eines echten Lastkraftwagens zu sitzen? Heute wird darüber nicht nur theoretisch gesprochen. Eckart Müller und sein Kollege Frank Nirk von der Sifat Road Safety GmbH wollen den Kindern den sogenannten toten Winkel näherbringen. So heißt der Bereich, der für den Fahrer trotz Spiegel nicht einsehbar ist. Dieser ist umso größer, je breiter das Fahrzeug ist und je höher die Unterkante der Front- und Seitenscheiben liegen. Daher ist die Gefahr des toten Winkels bei Lkw besonders stark ausgeprägt.
Mit Fragen im Gepäck geht es los
Aufregung macht sich breit. Selma, Ayse, Yusuf und ihre Mitschülerinnen und Mitschüler sind heute das erste Mal bei einem Verkehrssicherheitstraining. Im Unterricht haben sie sich auf schwer einsehbare Bereiche für Verkehrsteilnehmende vorbereitet. Wo befinden sich diese am Fahrzeug und wie fühlt es sich an, am Lenkrad eines Lkws zu sitzen? Diese Fragen werden sich heute klären.
Was sehe ich im Seitenspiegel?
Trainer Nirk zeigt der Gruppe zunächst am realen Lkw, wo sich am sperrigen Lastwagen die Außenspiegel befinden und was darin zu sehen ist. Daraufhin stellt er sich direkt vor das Fahrzeug. Schnell wird klar: Ein Fahrender kann Nirk aus dem Führerhaus nicht sehen, er schaut schlichtweg über ihn hinweg. Besonders bei kleinen Kindern ist das gefährlich, da sie aufgrund ihrer Körpergröße noch leichter zu übersehen sind. Dann stellen die Experten mit der Gruppe Alltagssituationen nach: zum Beispiel den Schulweg mit dem Fahrrad. Ab wann sieht der Fahrende beispielsweise das Rad fahrende Kind neben dem Lkw? Eine einfache, aber wichtige Faustregel lautet: Wer den Lkw-Fahrendendurch den Außenspiegel nicht sieht, wird von ihm auch selbst nicht gesehen.
„Die Verkehrsschulung in den Bezirken hinkt – wir möchten unseren Teil zur Verkehrssicherheit beitragen.“
Eckart Müller ist unter anderem für das Thema der Traineraus- und -weiterbildung bei der SifatRoad Safety GmbH in Berlin-Spandau zuständig. Das Unternehmen bietet Lkw-Simulatoren zum Kauf an und schult die Nutzenden im Umgang damit. Ein tödlicher Abbiegeunfall unter Beteiligung eines Lkw in Spandau führte zu dem Entschluss, die Vorführung der Simulatoren auch für Kinder anzubieten. Mit der Eigeninitiative möchte das Unternehmen das Thema in der Verkehrserziehung vorantreiben, denn Verkehrsschulungen werdenaus seinerSicht zu wenig behandelt.
Die Schülerinnen und Schüler durchlaufen kein vollständiges Training, wie es beispielsweise für Feuerwehrleute und Berufskraftfahrende üblich ist. Den Kindern wird das System vorgeführt und erklärt – inklusive simulierter Probefahrt für alle. Die Fahrerkabine ist ein Original aus dem meistverkauften Lkw-Modell Deutschlands. Das Sichtfeld vor den Probanden beträgt 180 Grad, ein Beamer projiziert die Simulation einer Fahrt auf die Leinwand.
Dann kommt der spannende Moment. Die Kinder lernen den Simulator kennen. Selma steigt ins Cockpit, schnallt sich an, nimmt das große Lenkrad in ihre kleinen, zarten Hände, startet den Motor und schaut auf die virtuelle Straße. „Das Losfahren ist eigentlich ganz einfach, aber die Lenkung ist schwer und das Fahrzeug so groß!“, erklärt die Zehnjährige. Müller meint: „Im Simulator haben die Kinder die realitätsnahe Möglichkeit, ein großes Fahrzeug zu fahren. Was sieht man vom Fahrersitz? Wie ist der Bremsweg? Wie reagiert die Lenkung? Das alles wird hier erlebbar.“ Die erste Reaktion der Kinder unterscheide sich nur wenig von denen der Erwachsenen: „Es macht Spaß!“, höre man häufig. „Die Kinder steigen ein und fahren los, der Erwachsene guckt davor lieber doppelt und dreifach nach rechts und links und orientiert sich anders“, so Müller weiter.
Fährt das Kind gegen eine virtuelle Wand, wird gelacht, bei Erwachsenen sei die Reaktion häufig „Auweia“. Oft sei den Kindern nicht bewusst, wie schwierig das Lenken und Einsehen des Straßenbereiches sind. Die Abmessungen des sperrigen Fahrzeuges mit seiner großen Frontscheibe seien für Kids beeindruckend, erklärt der Experte. Und gleichzeitig zeigten sie sich sehr wissbegierig: „Den Spagat zwischen Spaß und Ernsthaftigkeit versuchen sie immer zu finden. Wir nehmen den Kindern die Angst, indem wir ihnen klarmachen, dass wir uns nicht in der Realität befinden. Wenn hier ein Unfall passiert, stellen wir alles per Mausklick wieder auf ‚heile‘. Das geht im echten Leben natürlich nicht.“
Nahezu alles ist anpassbar
Was die Kinder vor allem begeistert: Der Simulator ist erstaunlich flexibel. Verschiedene Fahrzeugmodelle, Wetterbedingungen, Tageszeiten und Situationen mit anderen Verkehrsteilnehmenden werden in der Fahrerkabine per Mausklick eingestellt. Auch die Darstellung einer Rettungsgasse auf der Autobahn ist möglich, dies ist besonders für das Training vonRettungskräften wichtig. Die Bedienelemente sind die gleichen wie in einem echten Lkw, die Kabine bewegt sich und vibriert – so realitätsnah wie möglich.
Fahrerassistenzsysteme im Lkw
Mittlerweile haben Lkw-Fahrende Unterstützung durch vielfältige sicherheitsrelevanteAssistenzsysteme. Einige sind für Lkws vorgeschrieben, zum Beispiel der Notbremsassistent. Er erkennt stehende Fahrzeuge und leitet von selbst eine Gefahrenbremsung ein. Letztendlich kommt es aber weiterhinauf das Fahrpersonal an, um sicher anzukommen. Deshalb empfehlen Müller und sein Team neben Fahrerassistenzsystemen wie dem Abbiege- und Notbremsassistenten auch ein Fahrsicherheitstraining, um den Umgang in verschiedenen Szenarien in Städten und ländlichen Gebieten zu trainieren.
Damit der tote Winkel nicht zur tödlichen Gefahr wird:
- Jederzeit damit rechnen, dass man als Radfahrende Person von Lkwoder Transporter Fahrenden nicht gesehen wird!
- Wenn kein Blickkontakt hergestellt werden kann, ist äußerste Vorsicht angesagt!
- Speziell in Situationen, in denen Lkw oder Transporter Fahrende rechts abbiegen wollen, zurück bleiben und erst weiterfahren, wenn ganz sicher ist, dass Lkw oder Transporter Fahrende sicher warten werden!
- Innerorts dürfen Nutzende von Lkw über 3,5 t nur mit Schrittgeschwindigkeit rechts abbiegen, wenn mit geradeaus fahrendem Radverkehr zu rechnen ist. Schrittgeschwindigkeit zu fahren, fällt einigen häufig schwer und Radfahrende können für Lkw oder Transporter Fahrende leider sehr plötzlich auftauchen, also lieber langsam an die Situation heranfahren und eventuell abwarten!
- Immer daran denken, wenn Lkw oder Transporter beim Abbiegevorgang schon schräg stehen, können sie Radfahrende über die Spiegel fast nicht mehr sehen!
- Bei Dunkelheit Kleidung aus retroreflektierenden und fluoreszierenden Materialen tragen und stets auf die richtige Beleuchtung am Fahrrad achten!
Niemand fährt allein
Der Simulator steckt voller Technik und Automation, aber ohne menschliche Überwachung funktioniert nichts. Im Kontrollraum nebenan steuert Eckart Müller die Straßenszenen, die Teilnehmende im Simulator auf dem Display vor sich sehen. Per Mikrofon kommuniziert er die Anweisungen in die Fahrerkabine und gibt Tipps zur sicheren Fahrweise. „Bitte das Automatikgetriebe auf D stellen“, lautet meist die erste Durchsage, die Fahrt kann losgehen. Gelangt das Fahrzeug zu weit auf den Seitenstreifen oder die Mittelspurmarkierung, weist Müller darauf hin.
Das Thema des sicheren Verhaltens im Straßenverkehr ist fest im Lehrplan verankert.
Janina Dorge ist die Klassenlehrerin der Fünftklässlerinnen und Fünftklässler. Das Sicherheitstraining ist für sie eine ideale Ergänzung zur Vorbereitung auf den Fahrradführerschein, die aus einem theoretischen sowie praktischen Teil besteht und von allen in dieser Klassenstufe absolviertwird. In Zusammenarbeit mit der Berliner Polizei werden unter anderem Grundlagen zur Bedeutung von Verkehrszeichen, Verhaltensregeln auf Radwegen und zur sicheren Teilnahme am Straßenverkehr vermittelt. Dorge beobachtet ihre neugierigen Schülerinnen und Schüler und wie sie die bisher unbekannte Perspektive erkunden: „In Verbindung mit der hochmodernen Technik des Simulators können wir den Schülerinnen und Schülern eine wichtige und interessante Exkursion bieten.“ Im Anschluss wird ein gemeinsames Picknick stattfinden, um die Eindrücke und das Erlebte zu besprechen. „Ich bin mir sicher, dass sie viel zu erzählen haben.“
Mit eigenen Augen entdecken
Die ersten Eindrücke zeigen schon jetzt: Die Fahrt im Simulator hat Spaß gemacht. „Wir hatten in der vierten Klasse Theorieunterricht, aber hier konnten wir alles mit eigenenAugen sehen. Das war gut für uns“, so Selma.
Sie und ihre Klassenkameraden Ayse und Yusuf sind zu Fuß, auf dem Rad, mit öffentlichen Verkehrsmitteln oder als Mitfahrende im Auto auf den Straßen unterwegs. Radwege, Fahrradampeln und Schutzstreifen geben ihnen dabei auf ihren Wegen ein sicheres Gefühl.
Nun kennen sie auch die Perspektive aus dem Lkw. Besonders der Blick aus den Seitenspiegeln war für sie beeindruckend. „Man muss viel gucken, um wirklich alles zu sehen und sicher zu fahren.“ Nun sind die Schülerinnen und Schüler gewappnet für die anstehende Fahrradführerschein-Prüfung. Und vielleicht möchte der ein oder andere später im Leben noch auf größere Gefährte umsteigen.
Bilder: Lucas Wahl