„Ich weiß es einfach“, sagt Wolfram Hoyer. Wenn jemand seine Hilfe oder Beistand in der Autobahnkirche brauche, spüre er das ganz tief in sich drin. Dann fahre er sofort los, erzählt der Augsburger Pater. Ein paar Minuten später erreicht der 49-Jährige in seinem Kleinwagen das Gotteshaus außerhalb der Stadt. Dort thront die Kirche auf einer Wiese. Weit und breit keine anderen Gebäude in Sicht. Nur die A8. Seit mehr als 60 Jahren empfängt das schlichte Gotteshaus an der Ausfahrt 71, Adelsried, Auto- und Motorradfahrer, die einmal kurz durchschnaufen wollen. „Etwa 50.000 Besucher stoppen hier pro Jahr, um zu beten oder sich zu entspannen“, berichtet Pater Hoyer.
47 Kirchen warten auf Reisende
„Maria, Schutz der Reisenden“ wie der Bau in Adelsried offiziell heißt, war 1958 die erste Autobahnkirche Deutschlands. Bis heute sind 46 weitere Kirchen und Kapellen in der Bundesrepublik dazugekommen.
Schon vor der Eröffnung des ersten Gotteshauses an der Autobahn fanden sich schnell Befürworter, auch der damalige Bundesverkehrsminister Hans-Christoph Seebohm war ein Fan: „Der Gedanke, an der Autobahn eine Kapelle zu errichten, gefällt mir sehr gut. Ich glaube, dass mancher Kraftfahrer in der Hetze unserer Tage gern einige Minuten der Besinnung und Einkehr verbringt.“
Diese Grundidee gilt noch immer. Auch weil heute deutlich mehr Autos, Lkw oder Motorräder an der Autobahnkirche vorbeibrausen – statt auf zwei Fahrstreifen wie damals nunmehr sogar auf drei pro Richtung. „Die Leute wollen hier bei uns herunterkommen und entspannt weiterfahren. Autobahnkirchen wie unsere haben eine entschleunigende Wirkung auf den Fahrer“, erzählt Hoyer.
Das Mehr an Verkehr zeigt sich auch im Anliegenbuch, welches im Kirchenraum ausliegt. Pro Tag tragen sich dort viele Fahrer ein, schildern ihre Lebenssituation, ihre Pläne und hoffen auf eine sichere Reise – in den Urlaub, auf Geschäftsreise oder wohin sie ihr Weg auf der Autobahn sonst führt.
Gelassener im Straßenverkehr
Bruno Schickor und seine Frau Jessica kommen regelmäßig zur Autobahnkirche Adelsried. „Eigentlich nach jeder Reise, die wir beenden“, sagt der 55-Jährige, der in der Nähe wohnt. Um danke zu sagen, dass ihnen nichts passiert ist. „Man kann nicht vorsichtig genug fahren. Damit bin ich immer gut ans Ziel gekommen.“ Ein Stopp in der Autobahnkirche helfe ihm kurz durchzuatmen. „Es muss auch keine große Kirche sein, eine kleine Kapelle reicht schon aus“, so Schickor.
Nach diesem Prinzip der kleinen Andachtsräume wurden über die Autobahnkirchen hinaus unter anderem in Hessen ab 2001 auch mehrere Autobahnkapellen an großen Raststätten eröffnet, um den Stress und die Anspannung der Reisenden zu verringern. „Tankstelle, Restaurant, Toilette und daneben eine kleine Kirche“, zählt Pater Hoyer auf. Das wirke irgendwie skurril, aber erreiche viele Menschen und habe damit einen positiven Effekt auf die Verkehrssicherheit.
Und die Versicherer im Raum der Kirchen, eine Gruppe deutscher Versicherungsunternehmen, schreiben auf ihrer Homepage: „Wer grundsätzlich in Autobahnkirchen Rast macht, fährt danach gelassener, rücksichtsvoller und sicherer.“ Die Gotteshäuser seien damit ein Gegenpol zum Leben auf der Überholspur.
30.000 Besucher auf dem Motorrad
Autobahnkirchen sind nicht das einzige Angebot für Verkehrsteilnehmer. Verschiedene Kirchen in Deutschland organisieren spezielle Gottesdienste für Motorradfahrer, zum Beispiel im Raum Hamburg. Dort gibt es den Motorradgottesdienst – kurz MOGO – bereits seit 1982. Er ist mit bis zu 30.000 Besuchern der größte in ganz Europa. Als Partner für Verkehrssicherheit wolle man das Miteinander stärken.
„Gerade auf der Straße erleben wir täglich, dass Unachtsamkeit, Aggression und Rücksichtslosigkeit schwerste Unfälle verursachen“, heißt es auf der Webseite des MOGO Hamburg. Der Motorrad-Gottesdienst soll mithilfe des Glaubens ein Zeichen dagegensetzen. Auch die Kampagne „Runter vom Gas“ hat schon viele gemeinsame Veranstaltungsaktionen mit Motorradgottesdiensten realisiert.
Im Vergleich zu anderen Einrichtungen der Kirche haben Autobahnkirchen übrigens einen Vorteil. „Wir sind wie viele andere Autobahnkirchen 24 Stunden rund um die Uhr geöffnet. Damit ziehen wir auch ein ganz anderes Publikum an“, so Pater Wolfram Hoyer.
Dazu gehört, dass im Vergleich zu anderen Kirchen mehr Männer die Gotteshäuser an der Autobahn besuchen. Obendrein sind es weniger kirchlich geprägte Menschen. Also ein Publikum, das von den Pfarrern und Pastoren sonst nicht erreicht wird. „Ich sitze hier quasi wie die große katholische Spinne im Netz, die nur auf ihre Beute warten müsste“, erzählt der 49-Jährige, der gerne mit Ironie spielt. Er ist als Pfarrer der ersten deutschen Autobahnkirche schließlich reichlich Medienaufmerksamkeit gewöhnt.
Orte der Andacht und Erholung
Hoyer bleibt immer gelassen. Wenn er gebraucht wird, ist er zur Stelle. Hat ein offenes Ohr für die Besucher, die auf ihn zukommen. Zum Beispiel, wenn ein Unfall auf der A8 tödlich endet.
Ein Unfallschwerpunkt, das Kreuz Ulm/Elchingen, ist nicht weit entfernt. Immer wieder betreue er Verwandte von Verkehrsopfern oder freiwillige Helfer, die nach Unfallerlebnissen traumatisiert sind. Jemanden ein Gespräch aufzuzwingen, wenn er in der Kirche nach Entspannung oder Besinnung sucht, ist wiederum nicht Hoyers Art. „Die Leute wollen vor allem beten und nicht, dass irgendein Pfarrer hinter der Tür auf sie zugesprungen kommt.“
Hoyer hat die Kirche mit einem Gedankenpfad und einem kleinen Teich außerhalb ihrer Mauern zu einem Ort ausgebaut, an dem man gerne rastet und zur Ruhe kommt. Sogar ein großes, von weitem sichtbares Holzkreuz hat er aufstellen lassen, um auf die Kirche hinzuweisen. Darauf ist er besonders stolz. Denn es ist das einzige, das an einer deutschen Autobahnkirche in dieser Form bisher errichtet wurde. Viele Besucher nutzen den Stopp auch für eine Fitness-Pause bei längeren Fahrten. Um Müdigkeit vorzubeugen bzw. den gefährlichen Sekundenschlaf abzuwehren und konzentriert am Steuer zu bleiben, raten Experten alle zwei Stunden zu einer Fahrpause und Bewegung.
Weitere Informationen zu Müdigkeit am Steuer und Tipps gegen Sekundenschlaf finden Sie hier.
Wenn Hoyer am Sonntag zu drei Gottesdiensten um 8, 10 und 18 Uhr bittet, ist die Kirche sogar vor der Tür mit Gästen besetzt. Wenn die sich anschließend wieder unterwegs auf die Straße machen, setzt Hoyer auf das Verantwortungsgefühl der Menschen. Er vertraut darauf, dass sie gegenseitig aufeinander aufpassen. „Dass man umsichtig einfach besser fährt, sollte eigentlich jedem klar sein“, findet der Pfarrer.
Und dazu, die Menschen zu dieser angemessenen Fahrweise zu bewegen, „leisten die Autobahnkirchen einen positiven Beitrag", sagt Hoyer.
Der Weg zur Autobahnkirche
Nicht jede Kirche in Deutschland kann zu einer Autobahnkirche werden. Dafür müssen sie erst einige Kriterien erfüllen. Unter anderem muss die Kirche eine direkte Anbindung an eine Autobahnraststätte beziehungsweise eine Autobahnabfahrt besitzen. Von einer Abfahrt darf die Entfernung nicht mehr als einen Kilometer betragen. Zudem muss die nächste Autobahnkirche mehr als 80 Kilometer entfernt sein.
Vor allem in den neuen Bundesländern sind kleine historische Dorfkirchen in den vergangenen Jahren zu Autobahnkirchen geworden. Dafür müssen sie ihre Türen aber auch täglich von 8 bis 20 Uhr öffnen. Manche Kirchen sind es sogar 24 Stunden am Tag – 365 Tage im Jahr.
Bilder: Quirin Leppert