Wo Unfälle Kleinigkeiten sind

Im Miniatur Wunderland Hamburg entstehen Verkehrsunfälle per Mausklick.

11. Juni 2018
8 Minuten

Ein Bus-Fahrer nähert sich einer Kreuzung. Beim Linksabbiegen übersieht er einen Lkw – es kommt zum Unfall. Verletzte gibt es keine. Zumindest nicht aus Fleisch und Blut. Der Zusammenstoß hat sich im Miniatur Wunderland Hamburg ereignet. In der größten Modelleisenbahn-Anlage der Welt kommt es – wie in der Realität – zu Unfällen. Immer wieder. Im Format 1:87 ist das ein Glücksfall. Denn viele Besucher lernen etwas.

Der Ort Knuffingen hat keine Postleitzahl. Keine Vorwahl im Telefonbuch. Keinen echten Bürgermeister. Ansonsten gibt es in dem fiktiven Ort alles, was eine Stadt ausmacht: Häuser, einen Busbahnhof, eine Feuerwache, ein Krankenhaus, eine Polizeiwache, sogar einen Flughafen. 6.000 Kunststoff-Figuren bewohnen Knuffingen. Auch Autos fahren auf den Straßen.

Mini-Unfälle kommen groß raus

Die Modellbau-Experten haben die Realität in Perfektion nachgebaut. Dazu gehört auch, Missgeschicke, Pannen und Unfälle abzubilden. Ein Beispiel: ein Wohnungsbrand. Um das Feuer zu löschen, rücken etwas 30 Mini-Einsatzfahrzeuge aus. Wenige Meter weiter das nächste Unglück: ein umgekippter Lkw, der von der Fahrbahn abgekommen ist. Die Bremsspuren lassen den Unfallhergang erahnen. Möglicherweise war der Fahrer zu schnell unterwegs.

Auch in der Realität sind viele Fahrer zu schnell. Im Jahr 2018 haben nach Angaben des Statistischen Bundesamtes 3.275 Menschen im Straßenverkehr ihr Leben verloren. Die mit Abstand häufigste Ursache: Fahren mit unangepasster Geschwindigkeit. Vor allem auf Landstraßen kommt es deswegen immer wieder zu Unfällen. Ereignen sich dort Verkehrsunfälle, sind die Folgen meist fatal: Die Polizei registrierte 2017 auf Außerortsstraßen (ohne Autobahnen) 56,5 Prozent aller Verkehrstoten – obwohl die Beamten hier nur 24,5 Prozent aller Unfälle mit Personenschaden aufnahmen.

Wie fahren Autos im Miniatur Wunderland?

Jeder Wagen hat einen eingebauten Prozessor und empfängt Befehle eines Computers. Weitergegeben werden unter anderem Daten zur Strecke, zu Steigungen, Vorfahrtsregeln, Bahnübergängen und roten Ampeln. Sind Fahrzeuge unterwegs, errechnet der Prozessor 20-mal pro Sekunde alle Aktionsmöglichkeiten für jeden Wagen. Ein Magnet im Auto leitet das Fahrzeug schließlich über eingelassene Drähte in der Straße. Um das technisch zu ermöglichen, haben die Experten einen Großteil der Fahrzeuge komplett selbst gebaut.

„Gegen Raser gehen wir knallhart vor.“

Im Miniatur Wunderland sind ebenfalls viele Autos zu schnell – jedoch nicht wegen menschlichen Fehlverhaltens, sondern vielmehr wegen eines voll geladenen Akkus: Autos mit hoher Batterieleistung sind schneller, Fahrzeuge mit leerem Akku langsamer. Doch wie in der „großen Welt“ wird Fahren mit zu hoher Geschwindigkeit geahndet: „Gegen Raser gehen wir knallhart vor“, sagt Axel Dirks mit einem Lächeln. Der Leiter des Teams „Carsystem“ deutet auf eine Verkehrssituation: Polizeibeamte winken Pkw aufgrund unangepasster Geschwindigkeit heraus und lotsen sie in eine Haltebucht. Das geschieht jedoch nicht spontan, sondern geplant. Blitzer gibt es im Miniatur Wunderland auch. Bereits 1.030.000 Autos sind in die Knuffinger Radarfalle getappt.

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Fotograf Lucas Wahl
Großes Kino: Wie in einer Verkehrszentrale überwachen Mitarbeiter über etwa 350 Kameras das Geschehen auf Straßen und Schienen.
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Fotograf Lucas Wahl
Alles im Blick: Auf dem Schaltplan überblickt Alex Dirks das Verkehrsgeschehen und kann die Fahrzeuge steuern.
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Fotograf Lucas Wahl
Arbeit eines Tüftlers: Beim Modellbau kommt es auf jede Kleinigkeit an.
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Fotograf Lucas Wahl
Das "Gehirn": Ein im Fahrzeug eingebauter Prozessor.
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Fotograf Lucas Wahl
Allein die Wartung eines Fahrzeuges dauert zwei Arbeitsstunden pro Jahr.
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Fotograf Lucas Wahl
Lässt die Akkuleistung nach, fahren die Fahrzeuge selbstständig in die Ladestation.
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Fotograf Lucas Wahl
Über Kontakte an den Außenspiegeln werden die Akkus der Fahrzeuge aufgeladen.
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Fotograf Lucas Wahl
Großes Kino: Wie in einer Verkehrszentrale überwachen Mitarbeiter über etwa 350 Kameras das Geschehen auf Straßen und Schienen.
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Fotograf Lucas Wahl
Alles im Blick: Auf dem Schaltplan überblickt Alex Dirks das Verkehrsgeschehen und kann die Fahrzeuge steuern.

Jeder Zusammenstoß im Miniatur Wunderland ist Teil einer durchdachten Choreographie. Die Modellbauer konstruieren zwei Arten von Unfällen: einerseits Zusammenstöße, bei denen sich Fahrzeuge tatsächlich aufeinander zu bewegen und – kurz bevor sie sich berühren – stehen bleiben. Unfälle dieser Art werden per Computer einprogrammiert. Sie lösen teilweise Rettungseinsätze aus und wiederholen sich regelmäßig. Ebenfalls gibt es Unfälle, die als Stillleben installiert sind: Die Fahrzeuge bewegen sich keinen Millimeter – etwa ein umgekippter Lkw oder zwei Pkw, deren zerbeulte Karossen sich berühren.

Als Stillleben haben die Modellbauer beispielsweise das Thema Stau und Rettungsgasse aufgegriffen. Auf einer Autobahn stehen Fahrzeuge. Zwischen dem äußersten linken und den übrigen rechten Fahrstreifen lassen sie Platz für Einsatzfahrzeuge. Dann fällt der Blick der Besucher auf einen Quersteher. Ein Wagen steht mitten in der Rettungsgasse – ein Verstoß gegen die Straßenverkehrsordnung, der in der Realität das Leben von Menschen aufs Spiel setzt. In Situationen wie diesen kommt es für Verunglückte auf jede Sekunde an.

Das Video zeigt einen Rettungseinsatz in der Miniaturstadt. Der Zuschauer verfolgt ein Feuerwehrfahrzeug beim Einsatz auf der Autobahn.

Es sind Verkehrssituationen wie diese, mit denen die Initiatoren des Miniatur Wunderlandes Aufklärung betreiben. Zumindest indirekt. Axel Dirks berichtet, dass Kinder sich die Modelle angucken und ihre Lehren daraus ziehen. „Kinder reden mit ihren Eltern darüber, warum bestimmte Autos von der Polizei angehalten werden oder wie die Rettungsgasse funktioniert“, sagt er. Sogar ein Fahrsicherheitstraining haben die Modellbauer inszeniert – vom richtigen Verhalten am Unfallort bis zur Verlängerung des Bremswegs bei Aquaplaning sind viele Aspekte zu sehen. Es sind kleine Impulse, die auch Erwachsene motivieren, ihr Verhalten im Straßenverkehr zu hinterfragen.

30 Stunden Bauzeit für einen Neuwagen

Die Detailtiefe im Miniatur Wunderland ist nur möglich, weil die Mitarbeiter viel Zeit investieren. Allein der Neubau eines Mini-Autos erfordert 20-30 Arbeitsstunden. Bei insgesamt 9.250 Autos, von denen 280 fahren und die restlichen stillstehen, gibt es immer etwas zu tun. Auch wenn die Arbeit fordert: Axel Dirks weiß, wofür er es tut. Es stecke etwas „Tolles und Spannendes“ in jedem Bauabschnitt. Er habe mitgewirkt, etwas Eigenes zu erschaffen. „Das Wunderland hat seinen eigenen Reiz“, sagt er. Doch er sagt auch, er habe die nötige Distanz. Er war nie der begeisterte Modellbaufan. Und das ist auch gut: „Ich wäre vermutlich sehr häufig traurig, wenn mal ein Auto kaputt geht.“

So echt wie das Original

Für Axel Dirks und die anderen etwa 360 Mitarbeiter im Wunderland sind es die „herausragendsten und spürbarsten Erlebnisse“, wenn Besucher die Liebe zum Detail würdigen. Mitarbeiter der Hamburger Feuerwehr waren beispielsweise überrascht, dass die Mini-Einsatzkräfte genau in der Reihenfolge eintreffen, wie es der Realität entspricht. Sie lobten auch die Feuerwehrautos, angelehnt an die Hamburger Originale, und die Feuerwehrwache am nachgebauten Flughafen. Manchmal, so Axel Dirks, frage er sich, ob das Miniatur Wunderland irgendwie real ist – oder alles zu schön ist, um wahr zu sein.

Die kleine Verkehrswelt wächst

Das Miniatur Wunderland ist die größte Modellanlage der Welt. Auf 1.499 Quadratmetern Ausstellungsfläche können Besucher neun Welten entdecken – so etwa Italien, die USA, Skandinavien oder die Schweiz. Insgesamt 1.040 Züge, 263.000 Figuren und 9.250 Autos erwecken die Welt im Kleinformat zum Leben. Die nächsten Abschnitte sind bereits in Planung. Südamerika soll bis 2021 entstehen und zwei Jahre später um die Karibik und Mittelamerika erweitert werden. Im jahr 2020 wollen die Modellbauer außerdem Monaco mit einer Formel 1-Strecke konstruieren. Pro Jahr besichtigen etwa eine Millionen Besucher die Anlage.

Bilder: Lucas Wahl